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Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Prolog
    Als der Unmensch schließlich durch die Tür kam, trug er eine Maske.
    Sie starrte ihn lange an, erstaunt, daß niemand sonst seine Verkleidung durchschaute. Er war der Nachbar von nebenan, der seine Forsythien goß. Er war der Fremde, der im Fahrstuhl freundlich lächelte. Er war der liebenswürdige Mann, der ein kleines Kind an die Hand nimmt, um ihm über die Straße zu helfen. Seht ihr das denn nicht , wollte sie schreien. Begreift ihr denn nicht?
    Ihre Hände hatte sie sittsam gefaltet wie ein Schulmädchen, und sie saß kerzengerade auf ihrem Stuhl. Aber ihr Herz war aus dem Takt gekommen, eine Qualle, die sich in ihrem Brustkorb wand. Und zum ersten Mal in ihrem Leben mußte sie sich selbst daran erinnern, das Atmen nicht zu vergessen.
    Gerichtsdiener flankierten ihn, führten ihn vorbei am Tisch der Anklagevertretung, vorbei am Richter, zu der Stelle, wo der Verteidiger saß. Aus einer Ecke drang das Surren einer Fernsehkamera. Die Szene war ihr vertraut, aber sie merkte, daß sie sie noch nie aus diesem Blickwinkel wahrgenommen hatte. Ändere deinen Standpunkt, und die Perspektive ist eine völlig andere.
    Die Wahrheit saß auf ihrem Schoß, schwer wie ein Kind. Sie würde es tun.
    Dieses Wissen, das sie doch eigentlich hätte erstarren lassen müssen, schoß statt dessen wie Brandy durch ihre Glieder. Zum ersten Mal seit Wochen hatte sie nicht mehr das Gefühl, wie eine Schlafwandlerin über den Grund des Ozeans zu gehen und mit schmerzenden Lungen die Luft festzuhalten, die sie vor dem Versinken eingeatmet hatte. An diesem entsetzlichen Ort, im Angesicht dieses entsetzlichen Menschen, fühlte sie sich plötzlich wieder normal, dachte ganz nüchtern. Innerhalb der nächsten zwei Sekunden würden die Gerichtsdiener zurücktreten, damit er ungestört mit seinem Anwalt sprechen konnte.
    In ihrer Handtasche glitten ihre Finger über das glatte Leder ihres Scheckheftes, über ihre Sonnenbrille, einen Lippenstift. Sie ertastete das, wonach sie suchte, und stellte erstaunt fest, daß sie es mit der gleichen vertrauten Selbstverständlichkeit umschloß wie die Hand ihres Mannes.
    Ein Schritt, zwei, drei, und schon war sie dem Unmenschen nahe genug, um seine Angst riechen zu können, um sehen zu können, wie sich der schwarze Rand seines Jacketts gegen den weißen Hemdkragen abhob. Schwarz und Weiß, darauf lief es letztlich hinaus.
    Einen Augenblick lang wunderte sie sich, daß niemand sie aufgehalten hatte. Warum niemand durchschaut hatte, daß dieser Moment unausweichlich war. Daß sie herkommen und genau das tun würde. Selbst jetzt hatten die Menschen, die sie doch am besten kannten, nicht versucht, sie festzuhalten, als sie von ihrem Stuhl aufstand.
    Und da wurde ihr klar, daß auch sie eine Verkleidung trug, genau wie der Unmensch. Und diese Verkleidung war so klug gewählt, so überzeugend ; keiner wußte, zu was sie geworden war. Aber jetzt spürte sie, wie die Tarnung nachgab. Soll die Welt es sehen , dachte sie, als die Maske von ihr abfiel. Und als sie dem Angeklagten die Pistole an den Kopf drückte und rasch hintereinander viermal abdrückte, wußte sie, daß sie sich in diesem Moment selbst nicht erkannt hätte.

I

    Wer zu Unrecht geschlagen wird,
sollte hart zurückschlagen – ganz gewiß –,
und zwar so hart, daß der andere daraus
seine Lehre zieht und es nie wieder tut.
    Charlotte Brontë, Jane Eyre

Wir sind im Wald, nur wir zwei. Ich hab meine Lieblingsturnschuhe an, die mit den bunten Schnürsenkeln und der Stelle hinten, die Mason angeknabbert hat, als er noch ein Welpe war. Ihre Schritte sind länger als meine, aber es ist ein Spiel – ich versuche, in die Löcher zu springen, die ihre Schuhe hinterlassen. Ich bin ein Frosch – ich bin ein Känguruh – ich bin verzaubert. Wenn ich gehe, klingt es, als würde sich jemand zum Frühstück Cornflakes auf den Teller schütten.
    Â»Mir tun die Beine weh«, sage ich zu ihr.
    Â»Nur noch ein kleines Stück.«
    Â»Ich will nicht mehr gehen«, sage ich und setze mich einfach hin, denn wenn ich mich nicht bewege, tut sie es auch nicht.
    Sie beugt sich vor und zeigt irgendwohin, aber die Bäume sind wie die Beine von großen Erwachsenen, und ich kann gar nichts sehen. »Siehst du ihn schon?« fragt sie mich.
    Ich schüttele den Kopf. Auch wenn ich ihn sehen könnte,

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