Die Maikaefer
der Stadt führte sie mich zum ersten Mal in meinem Leben in einen Modeladen. Dort übernahm sie das Kommando über fünf Verkäuferinnen, dekorierte mich mit allerlei Kostümen und verstand es, mir mit feiner Hand ein Matrosenjäckchen anzuprobieren und so lange zurechtzuzupfen, bis mir vor Seligkeit fast schwindlig wurde.
»Wie schneidig du aussiehst«, sagte sie und strahlte mit ihren blauen Augen erst mich und dann die anderen an, die ihr sofort beipflichteten.
Anschließend nahm sie mich an die Hand und führte mich zu Nazi-Hermann, wie sie den Friseur nannte, der mir nur »den Hals etwas ausschneiden« sollte, damit die Zotteln nicht über den Matrosenkragen fielen. Ich hasste Nazi-Hermann mit seiner Krücke aus dem Ersten Weltkrieg und den harten Sprüchen aus den Schützengräben, wenngleich ich ihn auch ohne sein nationalistisches Brimborium verabscheut hätte, weil mir jeder Angriff auf meine blonde Haarpracht zuwider war.
»Vor Verdun hatten wir gar keine Zeit für mehr als Deckel drauf und rundum ab!«, sagte er, nachdem meine Mutter ihm erklärt hatte, dass er nur den Nacken etwas ausrasieren sollte.
So machte er es auch mit mir, als lägen wir noch vor Verdun, und meine Mutter tat, als würde sie gar nichts bemerken. Mit steigender Wut starrte ich in den Spiegel und ahnte, wie schwer es sein würde, meine Einzigartigkeit zu bewahren. Als er fertig war, hielt er mir nicht etwa von allen Seiten einen Spiegel hin, sondern das gerahmte Foto eines HJ-Pimpfes mit abstehenden Ohren und dem gleichen Topfschnitt. »Der Scheitel links, wie der Führer«, sagte er und zog mir das Tuch weg, auf dem noch ein Teil meiner »Schnittlauchlocken« lag, wie er meine Haare nannte.
Während meine Mutter drei Groschen auf den Blechteller warf, beklagte er sich darüber, dass die russischen Gefangenen aus den Lagern nun überall zur Arbeit geschickt würden. Sogar bei ihm habe man solch einen slawischen Steppenmenschen abstellen wollen.
»Wenn er Haare schneiden kann«, sagte meine Mutter.
Nazi-Hermann schüttelte den Kopf. »Da sollen böse Brüder drunter sein. Die fressen den Ratten das Futter weg.«
Beim Abschied rief er »Heil Hitler«, sie sagte »Adieu«, und ich kniff wütend die Lippen zusammen. Auf dem Heimweg ließ sie meine Klagen gar nicht erst laut werden, sondern fragte zufrieden lächelnd: »Warum sollen Steppenmenschen keine Haare schneiden können?« Als ich ihr grimmig meinen kahl geschorenen Nacken vorhalten wollte, beschrieb sie voller Vorfreude, was sie morgen kochen würde und dass sie heute Nachmittag noch den Frankfurter Kranz fertig machen müsse. Sie versprach mir, dass ich von den gerösteten Haferflocken naschen dürfte und auch von der Vanillecreme, auf die ich immer total versessen war. Dabei machte sie das Probieren vor, lachend und schmatzend, als gäbe es nichts Amüsanteres und nichts Köstlicheres. Sie war so guter Laune, dass sie auch lachte, wenn uns auf der Straße Leute grüßten.
Als mein Vater abends kam, holten wir ihn vom Bahnhof ab. Nur Mama und ich. Dagi blieb bei Tante Kläre, die mein Vater nicht leiden konnte, weil sie so »tüterig« war. Als ich das Wort zum ersten Mal hörte, fragte ich meine Mutter, was das bedeutete. »Tantig« war ihre Antwort, also hieß »tüterig« so zu sein wie Tante Kläre.
Tante Kläre hatte den traurigen, demütigen Blick eines kranken Hundes, der sich bei jeder abrupten Bewegung zurückzieht, den Kopf auf die Pfoten legt und wimmert. Sie hatte nicht nur diesen leidensvollen Ausdruck, sondern sagte auch oft: »Ach, daran bin wohl wieder ich schuld!« Diese Jämmerlichkeit löste sich auch dann nicht auf, wenn sie mich kritisierte. Wenn ich eine Tasse zerschmissen hatte und sagte, ich war das nicht, jammerte sie: »Ach, ich bin wohl blind!« Einmal sagte sie: »Wahrscheinlich mögt ihr mich alle nicht.« Ein andermal: »Ich will euch ja immer das Schlechteste.« Oder: »Ihr wäret froh, wenn ich gar nicht da wäre«, fügte jedoch dann mit leiser Aggressivität hinzu: »Aber wer würde euch dann den Haushalt machen?« Nur die Geschichte vom kleinen Prinzen konnte sie besser erzählen als jeder andere.
Mein Geburtstag ist Ende April, eine Jahreszeit, in der es in Pommern gegen Abend noch ziemlich kühl war. Daher bestand meine Mutter darauf, dass ich eine Mütze aufsetzte. Mützen hasste ich, aber ich besaß ohnehin nur eine. Es war eine zu große Skimütze, die ich durch und durch verabscheute. Obendrein musste ich noch die Ohrenklappen
Weitere Kostenlose Bücher