Die Monster von Templeton
sei den Leuten hier überaus unangenehm, denn es zerstöre die Vorbildrolle, die Marmaduke Temple bislang innegehabt hatte. Er sei nicht der Mann gewesen, für den jedermann ihn gehalten hatte. Nach etwa zwanzig Minuten leidenschaftlichster Rede war Chauncey Todd völlig außer Atem, von seinem eigenen Eifer überrascht und erfreut über seine Redegewandtheit. Als er die Augen wieder öffnete, starrte Vivienne ihm mit noch gewachsener Verblüffung entgegen.
«Na und?», fragte sie schließlich. «Er war doch wohl auch nur ein Mensch, oder? Kein Mensch hat doch behauptet, er sei ein Gott gewesenoder so was. Menschen machen eben manchmal bescheuerte Sachen. Na gut. Wir sind drüber weg. Ich verstehe nicht, was das ganze Tamtam soll.»
«Nun», erwiderte Chauncey Todd, «da sind Sie deutlich in der Minderheit hier. Und zwar einer
überdeutlichen
Minderheit. Ganz Templeton war
außer sich,
sollten Sie wissen. Ebenso wie die gesamte Fachhistorikergemeinde des Landes. Man bezichtigte Ihren Vater der historischen Spekulation. Es ging sogar das Gerücht, man wolle ihm seinen Job bei der NYSHA kündigen. Ich jedenfalls, als sein Vertrauter, weiß, dass er den Gedanken nicht ertragen konnte und wegen der ganzen negativen Presse sehr
verwirrt
war. Wie Sie konnte er nicht verstehen, was dieser ganze
Bohei,
wenn Sie das so nennen wollen, sollte. Der arme, blinde Mann», sagte er inbrünstig und schüttelte den Kopf, «hatte nicht den blassesten Schimmer, was ihm widerfuhr. Und so glaube ich wirklich, dass der Unfall Ihrer Eltern vielleicht doch
kein
Unfall war.»
«Wissen Sie, Mr. Chauncey Todd», sagte meine junge Mutter, «das glaube ich nicht. Ich meine, es ist doch nicht so, als wären diese verwandtschaftlichen Beziehungen jemals ein Geheimnis gewesen. Meine Mutter und Großmutter sagten immer, als Nachfahren von Marmaduke Temple fühlten sie sich
wie Kinder der Liebe.
So haben sie drüber gewitzelt. Sie waren immer stolz darauf. Aber sie sagten auch, beweisen könnten sie es nicht. Ich meine, mein Daddy hat doch nichts anderes gemacht, als es zu beweisen, oder? Das ändert nichts an den Fakten. Ich meine, es ist Geschichte. So nach dem Motto: Was ist Geschichte schon anderes als Tatsachen, die man erst später rausfindet? Mensch, jetzt werd ich aber richtig tiefsinnig!»
Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen in jenem staubigen, walnussgetäfelten Raum. Chauncey Todd ging zum Fenster und schaute auf die Hauptstraße hinaus, wo gerade eine Gruppe junger männlicher Jogger vorbeikam, ihre Schenkel vom lichten Blau entrahmter Milch unter den winzigen Shorts. «Bekloppte Ge
sundheits
-fanatiker», sagte er voller Verachtung. «Ich denke, Vivienne», er drehtesich wieder um, schenkte den Brüsten einen melancholischen Blick und nahm Platz, «wir sollten jetzt mal weitermachen und das zu Ende bringen, was auf der Tagesordnung steht. Kommen wir also zum
Testament»,
fügte er hinzu und zog das Schriftstück aus einer Mappe.
So erfuhr Vivienne, dass fast alles, was ihre Eltern besessen hatten, futsch war. Edgewater, die Backsteinvilla, die von ihrem Urururgroßonkel Richard erbaut worden war und deren Mieteinnahmen ihre Familie all die Jahre über Wasser gehalten hatten, musste aus steuerlichen Gründen abgestoßen werden. Das Ölgemälde von Gilbert Stuart, auf dem ein fleischiger Marmaduke Temple abgebildet war, sowie das Porträt des grinsenden Schriftstellers Jacob Franklin Temple mussten in Averell Cottage von den Wänden genommen und an die NYSHA veräußert werden, um die Begräbniskosten zu decken. Fast der gesamte Bestand von Erstausgaben der Bücher Jacob Franklin Temples würde der Begleichung weiterer Rechnungen zum Opfer fallen, wobei es ihr freistehe, jeweils ein Exemplar als persönliches Familienerinnerungsstück zu behalten, da Jacob Wert darauf gelegt hatte, von jeder Ausgabe fünf Exemplare jederzeit zu seiner Verfügung zu haben. Der Schmuck ihrer Urururgroßmutter, Charlotte Franklin Temple, würde zum Verkauf angeboten; die Taschenuhr, die der Schriftstellerin von ihrem geliebten Vater hinterlassen worden war, dürfe Vi jedoch behalten. Die wertvollsten Dokumente hatte George bereits der NYSHA gestiftet: die Landkarten und Briefe Marmadukes sowie die Lobeshymnen so bedeutender Zeitgenossen wie Edgar Allan Poe, Samuel Morse, General Lafayette und anderer aus Jacobs Besitz. Vi erbte die Familienbibel, das Gebetbuch der Gattin von Marmaduke sowie die große Sammlung von Baseball-Memorabilia, liebevoll
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