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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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wand sich zwischen Schilf im sumpfigen Ufergelände, bald aber gesäumt von Buschrosen zum Vorplatz des Hauses hinauf, aus dessen geteerter Fläche sich die breite, von steinernen Balustraden gefasste Treppe zum Eingangsportal erhob. In den Ritzen der Marmorstufen hielten sich Gräser und Moos, die Risse und Bruchstellen im Rundbogen um das Eichenportal waren geschwärzt, und ich sah, dass der Verputz der zweistöckigen Fassade Blasen warf, dass die verblichene Farbe sich schuppig abzulösen begann und als rostrote Flechte in der Form phantastischer Kontinente auf der Mauer haftete. Stieftaal hatte ein schiefes Holzhäuschen mit der Aufschrift »Kasse« links neben der Treppe aufgeschlossen, sich eintretend gebückt, um gleich darauf seine Hand durch das Fenster zu strecken und mir meine Eintrittskarte auszuhändigen. »Katalog?« Ich nickte. Stieftaal trat aus der Kasse und reichte mir eine fotokopierte Broschüre ohne Bilder. »Zwanzig.« Ich zahlte und las: »Antimago. Retter der Welt. Nachdruck verboten.« »Autogramm?« stieß der Führer hervor. Und wieder nickte ich, sah zu, wie Stieftaal einen Bleistiftstummel aus der Kutte fischte und seinen Namen auf die Titelseite kritzelte.
    Er reichte das Heft zurück und brummte: »Zehn.« Jetzt sah ich ihm ins Gesicht. Eine grobe Landschaft, in der Schatten wohnten. Quellende Augen. Ich zahlte.
    Meine Verwirrung ließ mir nicht Raum zu bedenken, ob ich bis hierher nicht schon mehr bezahlt hatte, als das ganze Abenteuer wert wäre. Nicht, dass ich aufs Geld hätte sehen müssen. Lilianes Agentur MAKE , Malibu, deren Angestellter ich war, schätzte sowohl Fleiß als Kreativität in einem Maße, das uns zwar kaum Zeit für ein privates Leben ließ, aber mein eigenes Konto würde mir bald erlauben, mich, falls Liliane dies wünschte, als Teilhaber einzukaufen, um in der Folge noch mehr zu verdienen und eines nicht allzu fernen Tages unseren Planningdirector Szimenjicz vor die Tür zu setzen, der vor Kollegen, die genug Deutsch verstanden, meinen Vornamen Heinrich in »Schweinrich« abzuwandeln pflegte und das nur, weil er auf meine Doppelrolle als Angestellter und Ehemann eifersüchtig war. Ich hatte also Perspektiven, wenn auch seit langem schon keine aufwühlende Beziehung mehr außer eben der einen zu Szimenjicz, die aus unser beider Verachtung und Hass bestand. Vielleicht lag es gerade an solchem Mangel, dass ich mich für die Verwirrungen eignete, auf die Stieftaal sich verstand; dass ich den für vierzehn Tage geplanten Kreativurlaub, ohne Liliane zu benachrichtigen, ausdehnen und am Ende nicht nur vor meiner zerschlagenen Karriere, sondern vor einem Abgrund stehen würde, dessen erste Zeichen ich jetzt, am Beginn des Wegs, nicht erkannte. Sie werden mir glauben, dass ich die Begegnung sofort abgebrochen hätte, wenn ich gefühlt hätte, dass ich hier bereits Liliane verlor.
    Ich war nicht immer so unempfindlich gewesen. Habe ich in unserer gemeinsamen Zeit zu Ihnen je von den quälenden Todesgedanken in meiner Kindheit gesprochen? Elf Jahre war ich, als mich die Mathematiklehrerin in der Pause nach der zweiten Stunde überraschend in ihre Arme genommen und mir gesagt hatte, mein Vater habe angerufen, die Mutter sei gerade gestorben (typisch für meinen Vater, dass er nicht gekommen war, sondern angerufen hatte), und ich hatte mich losgerissen, war aus dem Schulhof gerannt, durch die halbe Stadt in die Klinik, wo meine Mutter seit Wochen sich in ihr Ende quälte, ins Zimmer gestürzt, das ich oft mit Angstblumen in der Hand leise und zögerlich betreten hatte, und der große, übers Bett gebeugte Pfleger hatte sich, wütend über die Störung, zu mir umgewandt. Da sah ich den nackten, abgemagerten Körper meiner Mutter, den der Pfleger mit einem Lappen wusch. Ich sah ihn seither immer wieder, auf Bildern, Kreuzabnahme und Pietà, ich sah ihn in den Kriegsberichten des Fernsehens, auf den Fotos des Hungers. Für die Messe hatte mein Vater mir einen dunkelblauen Anzug gekauft, zum ersten Mal in meinem Leben trug ich eine seiner Krawatten, und als er sie mir um den Hals schlang, den Knoten festzurrte und den Hemdkragen darüber klappte, fühlte ich mich gefangen, als könne von nun an jedermann mich an dem schwarzen Seil packen und mit sich zerren wie einen Hund. In der Messe war ich ruhig und seltsam unbeteiligt. Als aber die Weihrauchampel geschwungen wurde, überfiel mich schlagartig ein scharfer, vom Rücken durch den Nacken in meinen Hinterkopf aufsteigender

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