Die Nacht der Haendler
Schmerz, wie eine glühende Scheibe rotierte er in meinem Gehirn, mir wurde übel, und ich sprang auf, lief durch den Mittelgang der Kirche, durch das Spalier der entsetzten Blicke von Tanten, Onkels, Familienfreunden und ihren Kindern, die Absätze meiner Schuhe schlugen laut auf den Steinboden, ich rannte ins Freie, das Portal schloss sich hinter mir mit einem dumpfen, schweren, meine Flucht missbilligenden Stöhnen. An einer Buchsbaumhecke übergab ich mich, wischte mir mit dem schwarzen Tuch meines Vaters, das er mir in die Brusttasche des Jacketts gesteckt hatte, den Schweiß vom Gesicht und spürte erleichtert, dass der Schmerz sich langsam aus meinem Kopf zurückzog. Ich fragte mich, ob meine Mutter mir würde verzeihen können. Seit damals hatten mich regelmäßig Visionen heimgesucht von einem schwarzen, schwerelosen und randlosen Gebiet, in dem ich schrie und immer schrie und nicht gehört wurde. Keine Träume. Mitten im Wachsein überfiel mich diese Verzweiflung, und erst als ich mich endgültig abzulösen begann vom väterlichen Zuhause, meine erste Reise mit Liliane, der später berühmten »Kopfmalerin«, nach Prag (wo auch wir beide uns zum ersten Mal trafen, Sie erinnern sich?), im Alter von vierundzwanzig Jahren, ließen die Überfälle nach, wurden selten, verloren sich. Ich fragte mich nicht, wohin. Die übliche Dummheit der Jugend. Aber Sie wissen: Eines jeden Menschen Lebenspfeil neigt sich nach dem Scheitelpunkt, und etwa seit meinem fünfunddreißigsten Jahr kehrte das schwarze Bild in mich zurück, selten erst, von mir mehr mit Verwunderung als mit Schrecken bemerkt, dann immer häufiger, als glitte ich mit zunehmendem Alter in die Kindheit zurück.
Wenn ich, derart dazu gezwungen, an den eigenen Tod dachte, war für mich, was anderen vielleicht Trost ist, ein wahres Grauen: dass mir nämlich alle Gefühle, die mich im Leben bewegten, abhanden kommen würden; dass ich vielleicht fortexistieren würde in irgendeiner unbeschreiblich anderen Form und abgeschnitten von allem, was mir eigen war; interesselos in einem hellen oder dunklen oder gar nicht mehr von mir wahrgenommenen räumlichen Zustand; und dass mir damit für alle Ewigkeit die Liebe genommen wäre, der Hass, die Freude, die Trauer. Und nicht nur diese für alle Ewigkeit verloren sein würden, sondern auch die Erinnerung an sie. So fürchtete ich mich vor dem ewigen Leben mehr als vor dem Sterben, mehr als vor dem schmerzenden Körper vor einer Seele, die doch ohne Empfindung keine mehr wäre. Keiner von denen, die sich heimlich ihr Leben lang nach der als Gnade erwarteten Unempfindlichkeit sehnten, hätte mich verstehen können – weshalb ich mit niemandem je darüber sprach, seit ich als Kind mich entschieden hatte, dem Vater meine größte Furcht zu verschweigen, und darum aufgewachsen war wie mit einem Knebel im Mund. Erst heute weiß ich, dass meine Furcht mein erster, verbindlicher, genauer Bezug zur Gegenwart war: Es war die Furcht vor dem Leben in einer gefälschten Welt.
Verzeihen Sie, dass ich Sie mit diesen Einzelheiten belästige, nehmen Sie es für Alterssentimentalität und seien Sie nachsichtig. Wenn ich vom Papier aufblicke, sehe ich überm Horizont ein weißes Wolkengebirge quellen, das mich tröstlich blendet und aus der allzu fern liegenden Erinnerung wieder zurückholt auf die Insel im Fallinger See …
Ich hatte mich folgsam hinter meinem Führer Hans Stieftaal her auf den Weg zur Gedenkstätte begeben. Vor dem berühmten Glashaus in der Gestalt eines gewaltigen, innen vom Dach bis zum Boden weiß ausgehängten Oktogons angelangt, wies Stieftaal mich auf die Flügel des Portals hin: Die doppelt mannshohen Bronzetüren waren bedeckt von einer erhaben gearbeiteten Schrift, in deren Kehlen und Riefen Grünspan leuchtete. »Ein Werk der Bildhauerin Lucia Vonghi«, sagte Stieftaal und begann damit, seinen Führungstext abzuspulen. »Sie sehen hier das Manifest des Antimago, verfasst im zweiten Jahr seiner Erleuchtung. Es hebt an mit dem Satz Die Wirklichkeit ist die Wirklichkeit , und es schließt mit dem Satz Nur die Wirklichkeit ist wirklich wirklich . Dies sind die beiden zentralen Glaubenssätze des Antimagismus, und in ihnen liegt die Rettung der Welt verborgen. Beachten Sie bitte, dass die weißen Vorhänge, die im Innern des Tempels uns jetzt die Sicht auf das Allerwirklichste verdecken, nur einmal im Jahr zurückgezogen werden dürfen, am 6. Mai, dem Tag, an dem der Wirklichste der Wirklichen geboren wurde.
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