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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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Zeitgeflecht einstellen, in dem wir uns gleichermaßen vorauseilen und einholen, nie jedoch in der Aktualität werden begegnen können. Das finde ich tröstlich, es entspricht meiner Vorstellung von Realität. Es gibt ja keine Augenblicke. Schreiben Sie mir doch bitte im nächsten Brief auch etwas vom Wetter und von den derzeitigen Himmelsfarben über Chicago, ich will mir die gleißenden Fassaden der Glas-türme vorstellen können, die Gitterschatten der Hochbahn und die Lichtflüsse auf den Skulpturen von Miró und Cal-der und Moore – kurz gesagt, geben Sie meiner Sehnsucht nach dem Hellen etwas Futter! Sie sähen ja auch meine Olivenbäume nicht, schriebe ich nicht vom Licht auf den Blättern, die wie kleine grüne Lanzenspitzen das Auge mit ihrem Sonnenspiel blenden können. Ich hatte vor, die am Ende meines letzten Briefes angesprochene Reise mit Liliane nach Prag fortzuführen, aber ein Satz in Ihrem Brief bestimmt mich zu einer anderen Entscheidung. Zumal in Prag ja auf uns beide eine unerfreuliche Episode wartet. An der Stelle, an der Sie über Geld und Glück philosophieren, schreiben Sie – und zwar, ohne dass Sie mich auf Ihre Dunkelheit eingestimmt hätten: »Geld ist die Trauer um verlorene Liebe.« Können Sie verstehen, dass mich dieser Satz traf wie ein Keulenhieb? Ich las ihn wieder und wieder. Geld ist die Trauer um verlorene Liebe … Ich hatte den Wunsch, Sie zu umarmen. Aber wie sollte ich, ein finanzielles Nichts, einen Polykrates trösten können! Also fahre ich fort mit dem Gang über die Insel im Fallinger See, denn hier bin ich nicht in Gefahr, Ihnen als einem jungen glücklichen Mann zu begegnen, wie seinerzeit in Prag … Wo Sie ja auf Liliane einen großen Eindruck machten – hier müsste ich nun von meiner eigenen Düsternis, meiner quälenden Eifersucht schreiben … Ich komme darauf unvermeidlich zurück, bitte Sie aber jetzt, mir wieder zu Hans Stieftaal zu folgen, der sich nach seiner Rede von dem gläsernen Antimago-Gedenkhaus abwendet und vor mir her auf dem dick mit Laub gepolsterten Weg jenen kleinen Hain ansteuert, der zwischen der rückwärtigen Fassade des Wohnhauses und dem Oktogon gelegen ist. Außen von einer niedrigen Steinmauer umfasst, war er innen mit einer an Holzgittern hochgezogenen Hecke gesäumt. Ihr Geäst schlang sich zu Seilen, Zöpfen und Knoten, ein sich windendes Gehölz, dessen feine, vom Herbst entlaubte Triebe in der Form von Korkenziehern sich in die Luft schraubten, als riefen sie nach einem Halt in der Welt. Ich kenne den botanischen Namen nicht, augenscheinlich braucht die Pflanze dieses Gerüst, um sich so dicht entwickeln zu können, dass das Geviert im Innern während des Sommers hinter ihrem Laub verborgen bleibt. Nun war das nackte Muster der Hecke durchsichtig, und ich konnte dahinter drei rechteckige, handbreit aufgehäufelte Blumenbeete erkennen. Als ich Stieftaal durch eine Lücke in der Umfassungsmauer durch einen Heckenbogen und über zwei Stufen ins Innere des Hains gefolgt war, sah ich die Grabsteine, die jedes der Beete an der Kopfseite abschlossen. Polierte Basaltplatten, schmucklos, rechteckig wie die Gräber, auf denen die letzten blasslila Astern umgesunken waren und ihre Farbe an die Fäulnis verloren. Auf dem schwarzen Glanz der Steine in erhabenen Bronzebuchstaben die Namen: Lucia Vonghi, Boris Reeper, Elisabeth Reeper. Keine Daten. Auf Reepers Stein in der Mitte zwischen den Frauengräbern stand unter seinem Namen in doppelt großen Lettern ANTIMAGO, wieder darunter ein Satz, vermutlich ein Zitat aus einer seiner Propaganda-Schriften: THIS LIFE IS FICTION – REALITY BEYOND THE STARS. An Gräbern ergreift mich fast immer eine Zurückhaltung, die mit Feierlichkeit wenig gemein hat, eingeübt seit meiner Kindheit, ein Gefühl, das ich ebenso hasse wie genieße. Ich weiß da nicht, was zu tun ist. Und so entschließe ich mich, nichts zu tun. Eine unschuldige Ruhe, die aber, ohne dass ich es verhindern könnte, bald ihren Preis fordert: Ich kann mich dann kaum mehr aufrecht halten, spüre, dass jede Haltung unangemessen ist, ich kann nicht weggehen, bevor nicht irgendeiner es mir durch seine eigene Entfernung erlaubt oder ein Zeichen mir ermöglicht, mich abzuwenden: ein fallendes Blatt, ein Vogel, das Geräusch einer Autohupe von irgendwo her, Hundegebell, ein Insekt, das mühelos seinen Ort wechselt und mich auffordert, es ebenso zu tun. Mir ist dann alles recht, was mich ablenkt und ablöst. Stieftaal verweigerte mir diese

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