Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Rücken, bin in meine Steppdecke gewickelt und kann alles bequem erreichen.
»Du hat es ja richtig gemütlich«, sagt er und betrachtet die Glasflasche mit meiner Rippe.
»Bis auf das riesige Loch in meiner Brust und die acht Stiche, meinst du?«
»Ja, bis auf das«, erwidert er trocken. Genau deshalb finde ich Onkel Ben toll. Ihn kann so leicht nichts erschüttern, und er überschüttet mich nicht mit Mitleid. Er macht sich zwar Gedanken um mich, ist aber klug genug, um zu wissen, dass man nicht immer ernst sein muss, nicht einmal bei einer so ernsten Angelegenheit. Jetzt hält er meine Rippe ins Licht. »Ein Prachtexemplar«, sagt er.
Und er muss es wissen. Er ist Pathologe. Eigentlich komisch, denn er ist so nett und sollte besser ein Arzt für die Lebenden sein. Trotzdem kann ich ihn irgendwie verstehen. Er meint, er habe keine Lust auf Leute, die ständig jammern, nur weil sie einen Pickel auf der Nasenspitze haben. Darauf hätte ich auch keine Lust.
»Amy findet es morbide und verstörend.«
»Ich werde nie kapieren, wie ich zu einer so hysterischen Schwester komme«, sagt Onkel Ben schulterzuckend und grinst mich an. »Als wir klein waren, fand ich das allerdings super, denn sie konnte so umwerfend gut kreischen.«
Ich muss auch grinsen und rufe mir ins Gedächtnis, dass ich nicht lachen darf. »Hast du ihr damals Streiche gespielt?«
»Ja, aber ganz harmlose. Da war einmal diese komische Schnecke auf ihrem Toast …«
»Bäh!« Ich verziehe grinsend das Gesicht. Ich würde gern lachen, aber das darf ich erst in sechs Tagen – dann werden die Fäden gezogen.
Ich hasse die Fäden. Nicht, weil sie wehtun, sondern weil sie dafür sorgen, dass sich meine linke Seite so steif und plump anfühlt. Ich verstehe das nicht, denn die Wunde – der Schnitt auf meiner Brust – misst nur zwölf Zentimeter. Das ist zwar auch nicht gerade kurz, aber warum behindert es mich so sehr? Ich muss beim Aufstehen höllisch aufpassen – und auch, wenn ich mich bücke oder umdrehe. Amy muss mir unter die Dusche helfen. Ich dachte anfangs, ihre Hilfe wäre mir unangenehm. Aber das ist sie nicht. Weil es Amy ist. Und weil sie mich liebt. Und weil ich keine Angst vor ihr habe. Außerdem ist in einer Dusche noch nie etwas Schlimmes passiert. Das trägt zu meiner Beruhigung bei.
»Also, meine Kleine«, sagt Onkel Ben, und ich strecke ihm die Zunge heraus, »dein Onkel, ein durch und durch genialer Mann …« – ich verdrehe die Augen – »… hatte eine Erleuchtung! Eine unvergleichlich brillante Eingebung.« Er grinst mich an, wartet darauf, dass ich mitmache.
»Und welche?«, frage ich und ärgere mich zugleich darüber, dass er mich rumgekriegt hat. Aber nur ein wenig, und das auf gute Art. Denn ich mag es, wenn Onkel Ben mich neckt. Ich habe fast das Gefühl, als hätte er das seit meiner Geburt getan. Als wären wir eine echte Familie. Onkel Ben ist auch in dieser Hinsicht super. Er war mir gegenüber nie gehemmt. Wusste immer, wie er mit mir zu reden und sich zu verhalten hatte. Fand immer die richtigen Worte. Tante Beth, Pauls Schwester, ist lieb, aber auch ziemlich … vorsichtig. Als wäre ich zerbrechlich. Oder bissig. Oder beides.
»Ein kleiner Tipp: Es hat mit diesem Prachtexemplar zu tun.«
»Was denn?«, bettele ich. »Komm schon! Du musst nett zu mir sein! Ich bin krank!«
Onkel Ben seufzt dramatisch. »Keine Ahnung, wie ich es schaffen soll, weitere vierzehn Tage nett zu dir zu sein. Das wird ein hartes Stück Arbeit. Denn für so viel Nettigkeit bin ich viel zu gemein.«
Ich bohre grinsend einen großen Zeh in seine Hüfte. »Ja, das bist du! Du spannst mich immer auf die Folter!«
»Na gut, aber nur weil du es bist. Also: Meine unvergleichlich brillante Eingebung ist … Nein. Ich sollte wohl besser am anderen Ende anfangen.«
Ich verdrehe die Augen und seufze hochdramatisch, und plötzlich durchfährt mich ein scharfer Schmerz. Ich ziehe das linke Knie vor die Brust und atme gegen die Schmerzen an. Onkel Ben drückt sanft meinen Knöchel.
»Und was ist das andere Ende?«, frage ich gequetscht, aber Onkel Ben lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Das andere Ende ist eine Geschichte. Die Leute erzählen – auf jeden Fall erzählen das Juden und Christen –, dass Gott, nachdem er die Welt und so weiter erschaffen hatte, Adam aus Lehm formte …« Ich sehe ihm an, dass er, gleich nachdem er den Namen ausgesprochen hat, an den Adam von Amy und Paul denken muss, seinen Adam, und
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