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Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Titel: Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexia Casale
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gestehen, dass wir versagt haben.« Amy klingt anders als sonst. Vollkommen tonlos.
    »Dann sollten wir sie vielleicht fragen …«
    »Paul.« Sie klingt beißend, geradezu giftig.
    »Oh, diesen Ton habe ich schon lange nicht mehr gehört«, sagt Onkel Ben und versucht, die Anspannung auf schmeichelnde und neckische Art zu überspielen. Aber Amy weiß seine Güte nicht zu würdigen, und auch Paul findet nicht zu seiner guten Laune zurück.
    Im Schweigen, das eintritt, richte ich mich auf.
    »Also: Welche Frage darf Paul Evie nicht stellen?« Onkel Ben klingt heiter, aber sein Unterton ist hart und schwer, eine Forderung schwingt darin mit, die ich vor meiner Zeit bei Amy und Paul nicht kannte. Inzwischen weiß ich jedoch, worin sie besteht. Es geht um etwas, das es nur innerhalb einer Familie gibt: Die Verweigerung einer Antwort kann nicht geduldet werden, weil man viel Vergangenheit und zu viel Zukunft miteinander teilt. Egal, welche Frage man stellt – wenn sie, was selten geschieht, mit diesem Unterton ausgesprochen wird, bekommt man auch eine Antwort.
    »Paul … Paul meint, wir sollten jemanden anheuern, der die Sache bereinigt.«
    »Nein«, fällt Paul ihr ins Wort, und er klingt noch wütender und frustrierter als zuvor. »Ich finde nur, dass wir Evie diese Möglichkeit unterbreiten sollten …«
    »Das wäre noch schlimmer, als es tatsächlich zu tun«, zischt Amy. »Willst du Evie zu allem Überfluss auch noch eine solche Entscheidung aufbürden?«
    »Ihr meint also keinen neuen Anwalt. Was dann? Einen Detektiv?«, fragt Onkel Ben.
    Wütendes Schweigen tritt ein. Schließlich sagt Amy: »Jemanden, der sie beseitigt.«
    »Einfach ›beseitigen‹, wie?«, fragt Onkel Ben mit einem Unterton, der seine Worte jeder Nachdenklichkeit und Verspieltheit beraubt.
    »So habe ich das nicht gemeint«, sagt Amy. Sie klingt immer noch tonlos und gepresst.
    »Aber ich.«
    Das ist so leise, dass ich nicht genau weiß, wer gesprochen hat, Paul oder Onkel Ben.
    Dann tritt ein langes Schweigen ein.
    »Selbst wenn ihr das tätet – ganz davon abgesehen, was Evie dazu sagen würde«, beginnt Onkel Ben, verstummt jedoch gleich wieder. »Was würde es ihr nützen, wenn einer von euch im Gefängnis säße, vielleicht sogar ihr beide? Und ich … ich wäre nicht mutig genug für so etwas.«
    Ich liebe ihn für diese Worte, obwohl meine Augen brennen, brennen, brennen. Ich hole den Drachen aus der Tasche und drücke ihn, während ich mich umdrehe, mit der linken Hand gegen meine Brust. Ich versuche, an den Drachen zu denken, aber ich mag mir nicht länger vorstellen, dass ein Stück meiner Rippen so mächtig sein könnte wie ein Drache – denn ein Drache wäre doch viel mächtiger als alle anderen, ob Anwälte, Gerichte oder Fionas Eltern … Aber es gibt eben keinen Drachen. Und Fionas Eltern sind trotz Amy, Paul und Onkel Ben unbesiegbar.
    Ich richte meinen Blick auf die großen, glänzenden Griffe des Schrankes, der am Ende der Treppe steht, und kämpfe gegen den Nachhall meiner Gedanken an, indem ich »Leer, leer, leer!« singe. So werde ich taub für alles andere. Ich denke an den unteren Teil des Schrankes, in dem Amy überzählige Mäntel und Decken, Wollknäuel und Stricknadeln lagert, eine Schachtel mit Knöpfen und Garn in allen möglichen Farben. Nachdem ich alles aufgezählt habe, was mir einfällt, denke ich an den oberen Teil des Schrankes, an die zwei langen, tiefen Regale, auf denen Amy Kleider aufbewahrt, die mir zu klein geworden sind, alte Zeugnisse und Bilder sowie, ganz hinten, Adams Sachen: Babywäsche, Schulbücher und die Unterlagen für den Grabstein.
    Gegen Ende der Liste habe ich mich wieder ins Bett gehievt und zugedeckt, und die Kassette klackert und knirscht beim Vorwärtsspulen. Ich konzentriere mich mit aller Kraft auf die Wörter, forme sie mit den Lippen, höre sie in meinem Kopf. Um die Stimmen zu verdrängen.
    »Sie hat sechs Fäden problemlos gezogen. Mit einem kleinen Spezialwerkzeug. In eine Tüte eingeschweißt, als wäre es nur für mich allein gedacht. Ob es mehrmals verwendet wird? Es hatte jedenfalls blaue Griffe und sah aus wie eine Zange. Eine winzige Zange, die sie unter die Fäden geschoben hat. Alle waren sofort raus, bis auf die letzten zwei. Da hat sie immer nur ein Ende erwischt.«
    Ein Zucken überfliegt Miss Winters’ Gesicht. Wie eine kleine Welle. »Hat das wehgetan?«, fragt sie überflüssigerweise. Sie will es wohl aus meinem Mund hören.
    »Ein bisschen.

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