Rosa Rosen
Erinnerungen
Abigail saß an ihrem Wohnzimmertisch und sah auf die Schachtel, die vor ihr stand. Sie hatte sie hervorgeholt, nach so vielen Jahren – sie war ganz staubig von ihrem Aufenthalt auf dem Dachboden. Und es war ein gutes Versteck gewesen, gut, um das Geschehene zu vergessen und die Vergangenheit für immer ruhen zu lassen.
Doch in der letzten Nacht hatte Abigail davon geträumt, von damals, und als sie am Morgen erwacht war, war alles wieder in ihr hochgekommen, das Grauen, die Angst, die Hoffnung und die Erinnerung an Rachel.
Sie musste zugeben, dass es eine große Herausforderung war, jetzt wieder vor dem Gestern zu sitzen. Und sie traute sich nicht so recht, den Deckel der Schachtel abzuheben. Was würde sie erwarten? Seit fast 70 Jahren war die Schachtel unberührt, würde der Inhalt überhaupt noch erkennbar sein? Oder war er zu Staub zerfallen?
Mit zittrigen Händen berührte Abigail den Deckel und nahm ihn vorsichtig herunter. Sie legte ihn sorgsam beiseite und wagte einen Blick.
„ Oh, mein Gott!“, sagte sie gerührt. Das hatte sie nicht erwartet. Es war alles da, etwas verblasst, doch noch immer unversehrt. Sie nahm den Stapel Briefe, mit einem blauen Band zusammengebunden, heraus und sofort stiegen ihr Tränen in die Augen. Rachels Briefe.
Dann sah sie sich weiter in der Schachtel um. Ihr Blick fiel auf ein altes Tagebuch, eine Kette mit einem Herzanhänger und das Bonbonpapier ihrer damaligen Lieblingsbonbons. Und dann entdeckte sie sie: die Rosenblätter.
Sie waren getrocknet und ganz bestimmt nicht mehr rosa, und sie waren so zerbrechlich, dass Abigail Angst hatte, sie würden sofort in tausend kleine Stücke zerbrechen, wenn sie sie berührte. Doch diese Rosenblätter … sie riefen Erinnerungen in ihr wach, die sie vergessen, ja vielleicht sogar verdrängt hatte, und sie wollte sie nicht länger verdrängen. Sie wollte wieder dreizehn sein und all das Schreckliche wegblenden, um nur das Glück noch einmal fühlen zu dürfen, das sie trotz allem in diesem Sommer verspürt hatte.
Während Tränen still und leise ihre Wangen hinunterrannen, nahm sie eines der Rosenblätter heraus, legte es auf ihre offene Handfläche und betrachtete es. Und sie war wieder im Jahre 1934.
*
„Vater, wenn wir nicht mehr zum Examen zugelassen werden, was für einen Sinn hat dann das Studium?“, fragte Abigails älterer Bruder Levi. Er regte sich furchtbar darüber auf, dass er, beinah am Ende des Medizinstudiums angelangt, als Jude vom Examen ausgeschlossen wurde.
„Was würde es dir denn bringen, in diesen Zeiten Arzt zu werden?“, kam nun von Abigails Vater. „Siehst du nicht, was vor sich geht? Es wird dazu aufgerufen, die jüdischen Praxen zu boykottieren.“
„Es ist eine Schweinerei! Wie soll das mit uns nur weitergehen?“
„Ich kann es dir beim besten Willen nicht sagen.“ Ruben Goldmann schüttelte verzweifelt den Kopf.
Abigail beobachtete all dies von ihrem Versteck unter dem Esstisch aus. Sie hatte die Tischdecke extra tief heruntergezogen, damit man sie nicht entdeckte. Das Gespräch machte ihr Angst. Wenn schon ihr Papa Angst vor dem hatte, was kommen würde, wie sollte sie selbst dann Hoffnung bewahren?
Sie sah ihn sich an, wie er so da stand und zu Boden blickte. Er hatte vor einigen Monaten seine Stelle als Notar verloren und war seitdem arbeitslos. Niemand wollte mehr einen Juden einstellen. Er war drauf und dran, irgendwo als Handlanger anzufangen.
„ Einige meiner Kommilitonen denken sogar ans Auswandern.“
„Das ist wahrscheinlich die beste Lösung für alles. Wenn man den Führer darüber reden hört, dass er ein judenfreies Deutschland will, werden wir alle über kurz oder lang sowieso gehen müssen. Besser, man tut es jetzt freiwillig.“
„Aber müssen wir uns das denn gefallen lassen, Vater? Sie behandeln uns wie Menschen mit minderem Wert. Wir dürfen kein Examen mehr machen, nicht mehr als Rechtsanwalt oder Notar arbeiten, es gibt neue Begrenzungen der Anzahl von Studenten und Schülern an öffentlichen Schulen. Die tun alles, um uns zu verjagen! Wie wird es erst in ein oder zwei Jahren aussehen? Werden wir dann nicht einmal mehr überhaupt die Schulen besuchen dürfen? Werden wir mehr und mehr gedemütigt werden?“
„Ich hasse es, dir das sagen zu müssen, mein Sohn, aber ich denke, das ist erst der Anfang. Ich habe Dinge gehört … ich kann sie nicht einmal aussprechen. Ich denke ebenfalls mehr und mehr darüber nach auszuwandern.“
„Da
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