Eismord
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E s ist eher unwahrscheinlich, dass sich eine Stadt nicht nur als Tor zum Norden, sondern auch als Tor zur Haute Cuisine empfiehlt, und bis vor kurzem wäre das bei Algonquin Bay ziemlich abwegig erschienen, es sei denn, man speiste Donuts oder
Poutine
– eine Spezialität aus Fritten, Frischkäse und Bratensoße. Schon so manchen verwegenen Restaurantbesitzer hatte der Versuch, dreihundertvierzig Kilometer nördlich von Toronto frischen Atlantik-Lachs oder gar eine essbare Tomate zu servieren, in den Ruin getrieben. Doch sie gaben nicht auf, und in diesem Jahr wetteiferten mindestens drei Tempel – zwei Steakhäuser und ein Bistro Champlain – um die Gunst des Gourmets.
Das Bistro Champlain lag dabei eindeutig vorn, was zum Teil der Kreativität des Kochs Jerry Wing geschuldet war, wobei es durchaus auch von der Lage auf der anderen Seite der Autobahn, gegenüber einem erstklassigen Skigebiet namens Highlands, profitierte. Hatten die Highlands Zulauf, dann ging es auch dem Bistro Champlain gut – und im Moment lief es dank der Winterpelz-Auktion blendend. Aus aller Welt waren die Einkäufer über Algonquin Bay hergefallen, um auf Hunderttausende von Pelzen zu bieten, die einmal in den Geschäften von Manhattan über Moskau bis Peking landen würden. Auch wenn es im Restaurant wie gewohnt vornehm zurückhaltend zuging, so herrschte in der Küche einige Stunden lang Chaos.
Es war schon fast zehn Uhr, und Sam Doucette hatte die hoffentlich letzte Bestellung für diesen Abend angerichtet: Wildbret mit Süßkartoffelpüree und Rotweinsoße. Die Stoßzeit war vorbei, der Lärmpegel vom Scheppern der Bratpfannen, Töpfe und Auflaufformen endlich unter die Schmerzgrenze gesunken. Jerry war bereits heimgegangen, und Sam schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Geschäftsführer Ken nicht noch irgendeinem Spätankömmling mit Bärenhunger einen Platz anwies. Kochen hatte sie von ihrer Mutter gelernt, und die Arbeit im Champlain war eigentlich als Teilzeitjob gedacht, um davon ihre Kunstkurse am Algonquin College zu bestreiten, doch an den letzten Abenden hatte sie die Arbeit von zwei Köchen gestemmt, nachdem man einen ihrer Kollegen beim Verlassen des Geländes mit zwei Schinken im Rucksack erwischt und auf der Stelle gefeuert hatte. Außer Ali und Jeff waren die Kellner bereits nach Hause gegangen, und Sam konnte es kaum abwarten, auch endlich wegzukommen.
Sie stellte einen Fuß auf den Boden eines umgestülpten Gewürzgurkeneimers und wischte sich mit dem Ärmel ihres Kochkittels den Schweiß von der Stirn. Würde Randall sie anrufen? Falls ja, umso besser. Falls nicht … darüber dachte sie lieber nicht nach. Wenn man verliebt war, fand sie gerade heraus, schwebte man nicht etwa ununterbrochen auf Wolken, sondern war ständig Angst und Zweifeln ausgesetzt. Deshalb wandte sie sich lieber Loreena Moon zu, der Heldin eines Comic-Romans, den sie einfach so zum Vergnügen gerade zeichnete und schrieb. Zumindest redete sie sich ein, die Sache sei nur so zum Spaß, denn sie wollte sich nicht in den Traum hineinsteigern, den Comic auch verkaufen zu können. Andererseits spielte sie mit dem Gedanken, daraus eine Serie zu machen. So hatte sie bereits stapelweise Bilder gezeichnet und einige Szenen geschrieben. Aus irgendeinem Grund hatte Sam von der imaginären Loreena Moon eine klarere Vorstellung im Kopf als von irgendetwas in ihrem realen Leben – mit Ausnahme von Randall und seinen leidenschaftlichen Küssen.
Loreena Moon war cool, abgehoben, selbstbewusst – das genaue Gegenteil von Sam. Wenn sie sich durch das Dickicht der Stadt bewegte, umwölkte Argwohn ihre Stirn. Sie trug ein Messer in einer fransenbesetzten Scheide an der Hüfte, einen Köcher mit Pfeilen über der Schulter und einen kleinen Bogen auf dem Rücken. Sie war stets empört, die Rächerin der Entrechteten, der Beistand der Hilflosen und Verzagten.
Loreena blickte nie zurück und verliebte sich grundsätzlich nicht. Sie war genau wie Sam achtzehn Jahre alt, lebte jedoch weder im Reservat noch in Algonquin Bay. Sam war sich noch nicht sicher, wo Loreena Moon lebte. Es konnte unmöglich ein Haus oder eine Wohnung sein; mit Rechnungen oder anderen banalen Pflichten gab sich Loreena nicht ab. Allenfalls konnte Sam sich vorstellen, dass sie in Hotels übernachtete und in keinem häufiger als ein Mal.
Die Wanduhr schlug zehn, und Champlains Küche hatte damit geschlossen. Als das Handy in der Brusttasche ihres Kittels
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