Die Nachzüglerin (German Edition)
Küchentisch wie letzte Nacht, aber wir tranken
schweigend. Alexej rauchte eine selbst gedrehte
Zigarette, und ich beobachtete ihn dabei. Er schaute
mir nicht ins Gesicht.
"Glaubst du etwa, dass Russland kein Täterland ist?"
"Nein. Aber das Land ist zu mir gekommen. Ich habe
es mir nicht ausgesucht. Wahrscheinlich wurde ich in
das falsche Land hineingeboren. Vielleicht gehören wir
alle eigentlich woanders hin. Wo ist dein Platz?"
"In der DDR", antwortete ich spaßeshalber. Er lachte
und sagte lange kein Wort. Sein Schweigen beunruhigte mich. Ich begnügte mich damit, mir die
Linie
zwischen
seinen
geschlossenen
Lippen
anzusehen. Aber sie zogen sich zusammen und
wurden spitz. Ich ahnte, dass er die vergangene Nacht
vergessen wollte: "Es war schön mit dir gestern, aber
ich kann keine feste Beziehung haben."
Ich sagte nicht: "Scheißkerl verschwinde!"
Er sollte doch bei mir bleiben. Ich erwiderte cool: "Ja,
klar. Meinst du, wir hätten gestern noch auf dem
Konzert bleiben sollen?"
Alexej lächelte erleichtert: "Die haben nicht bis zum
Ende gespielt. Das haben wir vorher so abgemacht. Es
sollte nicht zur Räumung kommen. Der Kampf hätte
sich nicht gelohnt."
Er hatte sich bereits die schwere Lederjacke
umgehängt, hob leicht die rechte Hand und sagte
lässig: "Bis die Tage!"
KAPITEL 2
Ich wollte per Anhalter nach Wackersdorf fahren, also
stellte ich mich an der Ausfahrt eines Parkplatzes dicht
an die Straße. Mitten durch das Herz des Waldes
hatten sie die Autobahn gebaut. Früher war hier eine
Lichtung gewesen, auf der die Sonnenstrahlen sich
zwischen den Stämmen bündelten. Eine Betonschleife
und ein Restwald waren übrig geblieben, der als
Toilette diente. Die Mückenschwärme tanzten über
den Haufen. Es waren nicht viele Autos unterwegs.
Sollte ich aufgeben? Dafür war es zu spät. Neben mir
hielt das Auto meines Vaters. Wie die Menschen vor
dem Tod ihr ganzes Leben in Kurzform vor Augen
sehen, lief in meinem Hinterkopf der Film ab, in dem
ich mir vorstellte, wie ich das vermieden hätte.
Schneller als ich die Wagentür öffnen konnte, stieg
mein Vater aus und lief um das Auto herum, um mich
anzusehen, als müsse er sicherstellen, dass ich seine
Tochter war. Er wies mich mit nach unten
ausgestrecktem Arm auf den Beifahrersitz. Obwohl er
ruhig blieb, waren seine Bewegungen zackiger, als er
wollte.
"Steig ein. Ich fahre dich zum Bahnhof."
"Es fährt kein Zug nach Wackersdorf."
"Niemand hat dich gebeten, dorthin zu fahren."
Ich gab keine Antwort.
"Ich fahre dich trotzdem zum Bahnhof. Du kannst mit
der Straßenbahn nach Hause fahren."
"Ich kehre sowieso wieder um."
"Das wirst du nicht tun."
"Du kannst mich nicht festhalten."
Er tat mir leid, weil er nicht die richtigen Worte fand.
"Warum tust du so etwas?"
"Ich habe den Bus verpasst."
Eine Viertelsekunde lang war ich froh, dass er mich
aufgelesen hatte. Der Himmel entlud sich in einem
Platzregen.
"Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber ich
weiß genau, was ich mache."
"Ich kann mir aber vorstellen, was passieren kann."
"Ich fahre nur bei Frauen mit."
Seine gebräunte Haut färbte sich wutrot. Er wusste
nicht, auf wen er wütender war. Auf mich, die ihn
anlog, oder auf sich, der die Lüge nur gar zu gerne
geglaubt hätte.
"Auch Frauen können Unfälle haben."
Ich dachte an unseren Unfall in der Schweiz, als mein
Vater mit überhöhter Geschwindigkeit an die
Leitplanke gerast war. Damals saß ich auf der Wiese
vor dem kaputten Auto. Etwas schüttelte mich. Der
Stoß war schon lange vorbei, aber das Schütteln hatte
nicht aufgehört. Sie legten meine Eltern neben mich
auf den Rasen. Sie schrien wie große wilde Vögel. Ich
konnte sie nicht ansehen, rief aber nach meiner
Großmutter, die gar nicht da war.
Am Bahnhof drückte mein Vater mir einen Schein in
die Hand: "Gefährde dein Leben nicht."
"Du darfst Mama nichts sagen", bat ich ihn. Er nickte
resigniert. Bevor er mich umarmte, sah er mich an.
Meine zerlumpte Hose brannte mir an den Beinen,
aber ich war immer noch sein Kind: "Ich fahre mit
dem Zug."
Ich kaufte mir eine Fahrkarte zu dem Ort, der der
geplanten Wideraufbereitungsanlage am nächsten lag,
um von dort aus weiter zu trampen. Im Abteil war
sonst kein anderer. Ich lehnte den Kopf zurück und
schloss die Augen. Als Kind hatte mein Vater mir die
Hand aufs Gesicht gelegt, wenn ich schlafen sollte, so
leicht, dass ich durch sie durchatmen konnte. Er war
damals noch Krankenpfleger. Das Desinfektionsmittel
konnte ich selbst an den Tagen riechen, an
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