Die Nebel von Avalon
der Klang der geweihten Glocken schien etwas in ihr aufzubrechen und mit sich fortzutragen. Sie spürte plötzlich Tränen auf ihren Wangen. »Seid Ihr krank, Herrin?«
Morgaine schüttelte den Kopf und erwiderte bestimmt: »Ich fühlte mich einen Augenblick lang schwindlig.« Sie holte tief Luft. Artus war nicht im Boot – nein, natürlich nicht. Der Merlin hatte ihn auf dem Verborgenen Weg mit sich genommen.
Die Göttin ist alles in einem – die Jungfrau Maria, die Große Mutter, die Jägerin… und ich habe Teil an ihrer Größe.
Morgaine machte eine abwehrende Geste, hob die Arme, und die Nebel senkten sich, die sie nach Avalon bringen würden. Es dunkelte bereits, und obwohl Morgaine hungrig und müde war, ging sie geradewegs zum Haus der Herrin. An der Tür stand eine Priesterin, die ihr den Eintritt verwehrte.
»Die Herrin kann niemanden empfangen.«
»Unsinn«, erwiderte Morgaine. Sie spürte durch die gnädige Betäubung hindurch den Zorn in sich aufsteigen und hoffte, er würde erst ausbrechen, nachdem sie mit Viviane gesprochen hatte. »Ich bin ihre Verwandte. Frage sie, ob ich sie sehen kann.«
Die Priesterin verschwand im Haus und kehrte schnell zurück. »Die Herrin befiehlt Euch, auf der Stelle ins Haus der Jungfrauen zurückzukehren. Zur rechten Zeit wird sie Euch rufen lassen.«
Der Zorn packte Morgaine mit solcher Wucht, daß sie im ersten Augenblick die Frau beiseite schieben und sich den Weg ins Haus erzwingen wollte. Aber die Ehrfurcht vor Viviane hielt sie zurück. Sie kannte die Strafe nicht, die einer Priesterin drohte, die den gelobten Gehorsam verweigerte; und hinter ihrem Zorn riet ihr die leise, kühle Stimme der Vernunft, daß dies sicher nicht der Weg sei, um solches herauszufinden. Tief holte sie Luft, zwang sich ruhig zu wirken, verneigte sich gehorsam und schritt davon. Die Tränen, die sie beim Klang der Glocken während der Überfahrt unterdrückt hatte, stiegen wieder in ihr auf, und erschöpft wünschte sie zu weinen. Im Haus der Jungfrauen, allein in ihrer Kammer, hätte sie schließlich weinen können.
Aber die Tränen kamen nicht; sie spürte nur Scham, Pein und den Zorn, dem sie keinen freien Lauf lassen konnte. Körper und Seele schienen ihr durch einen einzigen großen Knoten der Angst gefesselt zu sein.
Zehn Tage vergingen, ehe Viviane sie rufen ließ. Der Vollmond, der beim Sieg des Gehörnten geleuchtet hatte, wurde zu einer schmalen, verblassenden Sichel. Als eine junge Priesterin Morgaine die Nachricht überbrachte, Viviane wünsche sie zu sehen, erfüllte sie ein dumpfer, schwelender Zorn.
Sie hat mit mir
gespielt wie auf einer Harfe.
Dieser Gedanke wich nicht aus ihrem Kopf, und als sie aus Vivianes Haus Harfenmusik hörte, hielt sie es zunächst für ein Echo ihrer bitteren Worte. Dann dachte sie:
Viviane spielt.
Aber in all den Jahren in Avalon hatte sie viel von Musik gelernt und kannte den Klang von Vivianes Harfe; die ältliche Frau war kaum mehr als eine durchschnittliche Spielerin. Sie lauschte den Klängen und überlegte gegen ihren Willen, wer dort spielen mochte. Taliesin? Morgaine wußte, er war der größte Barde seiner Zeit gewesen, ehe er Merlin wurde. Sie hatte ihn oft genug an den hohen Festtagen und bei feierlichen Ritualen spielen hören.
Inzwischen waren seine Hände alt; er besaß das frühere Können nicht mehr. Aber selbst in seinen besten Zeiten hatte er seinem Instrument keine solchen Töne entlocken können… Nein, es war ein neuer Harfner – einer, den sie noch nie im Leben gehört hatte. Noch ehe sie ihn wirklich sah, wußte sie auch, daß er eine größere Harfe als Taliesin spielte; die Finger des Unbekannten redeten mit den Saiten, als habe er sie verzaubert.
Viviane hatte ihr einmal eine alte Geschichte aus einem fremden Land erzählt. Es war die Geschichte eines Barden, dessen Saitenspiel die Ringsteine zum Tanzen brachte; sein Gesang versetzte die Bäume in wehmütige Trauer, sie ließen die Zweige hängen und die Blätter fallen. Und als er in das Totenreich hinabstieg, willigten die strengen Richter ein, daß sein geliebtes Weib ihm in die Oberwelt folgen durfte… Regungslos stand Morgaine vor der Tür, und alles in ihr verschmolz mit der Musik. Plötzlich spürte sie, daß die Tränen, die sie in den zehn langen Tagen zurückgedrängt hatte, aufsteigen würden und ihr Zorn sich wieder verflüchtigte, wenn sie sich diesen Tönen noch weiter hingab. Die Tränen würden alles davonschwemmen und ein schwaches, hilfloses
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