Die Nebel von Avalon
eines möchte ich dir sagen…«, er beugte sich über sie und küßte sie zwischen die Brüste, »… du warst die erste Frau; wie viele nach dir auch kommen mögen, ich werde mein Leben lang an dich denken, dich lieben und dich segnen. Ich verspreche es dir!«
Tränen rannen über seine Wangen. Morgaine griff nach ihrem Rock, trocknete sie zärtlich und wiegte seinen Kopf an ihrer Brust. Bei dieser Geste schien er den Atem anzuhalten. »Deine Stimme«, flüsterte er, »und das, was du gerade tust… weshalb nur glaube ich, dich zu kennen? Liegt es daran, daß du die Göttin bist, die alle Frauen ist? Nein…«, er erstarrte, richtete sich auf und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Morgaine sah im zunehmenden Licht, daß die knabenhaften Züge bereits männlich wurden und glaubte unbestimmt, auch ihn zu kennen. Plötzlich hörte sie ihn heiser rufen: »Morgaine! Du bist Morgaine! Morgaine, meine Schwester! O Gott, Heilige Jungfrau Maria, was haben wir getan?«
Sie legte langsam die Hände auf ihre Augen und flüsterte: »Mein Bruder! O Göttin! Bruder! Gwydion…«
»Artus«, murmelte er.
Sie hielt ihn fest umschlungen, und dann schluchzte er, ohne sie loszulassen. »Kein Wunder, daß ich glaubte, dich schon zu kennen, bevor die Welt erschaffen wurde.« Weinend fügte er hinzu: »Ich habe dich immer geliebt. Und das… o Gott, was haben wir getan…«
»Weine nicht«, bat Morgaine hilflos, »weine nicht. Wir sind in ihrer Hand. Sie hat uns hierher gebracht. Wir sind hier nicht Bruder und Schwester; vor der Göttin sind wir Mann und Frau, mehr nicht.«
Und ich habe dich nicht wiedererkannt,
dachte Morgaine.
Mein Bruder, mein Brüderchen! Du lagst wie ein kleines Kind an meiner Brust. »Morgaine, Morgaine, ich habe dir doch gesagt, du sollst auf deinen kleinen Bruder aufpassen.« Mit diesen Worten ging Igraine davon und ließ uns zurück. Und du weintest dich in meinen Armen in den Schlaf… Ich wußte es nicht.
»Es ist alles gut«, wiederholte sie und wiegte ihn. »Weine nicht, Bruder, mein geliebter kleiner Bruder, weine nicht, es ist alles gut.« Aber noch während sie ihn tröstete, erfaßte sie Verzweiflung.
Warum hast du
uns das angetan, Große Mutter? Herrin, warum?
Morgaine wußte nicht, ob sie die Göttin oder Viviane fragte.
16
Auf dem ganzen Weg nach Avalon lag Morgaine mit schmerzendem Kopf in der Sänfte, gequält von der bohrenden Frage:
Warum?
Das dreitägige Fasten und der lange Tag des Rituals hatten sie erschöpft. Undeutlich war ihr bewußt, daß die nächtliche Feier und die Vereinigung dazu gedient hatten, die Heilige Kraft freizusetzen. Und ohne die Erschöpfung am Morgen wäre das Leben wie üblich weitergegangen.
Morgaine wußte nur zu gut, wenn Erschrecken und Erschöpfung erst überwunden waren, würde der Zorn folgen. Sie hoffte, Viviane zu erreichen, ehe der Ausbruch erfolgte, um wenigstens den Schein von Ruhe bewahren zu können.
Dieses Mal nahm man den Weg am See entlang, und auf ihr eindringliches Bitten hin wurde ihr erlaubt, einen Teil der Strecke zu Fuß zurückzulegen. Sie war nicht länger das besondere Medium der Zeremonie, sondern nur noch eine der Priesterinnen der Herrin vom See. Auf der Barke forderte man sie auf, die Nebel zu rufen, um den Weg nach Avalon freizumachen; wie von selbst erhob sich ihr Körper – inzwischen war dieses Mysterium ein eigengesetzlicher Bestandteil ihres Lebens.
Als Morgaine jedoch die Arme hob, überfiel sie ein lähmender Gedanke des Zweifels. Die Veränderung in ihr schien nicht gering zu sein, und sie fragte sich ernsthaft, ob sie immer noch die Macht besaß, den Weg zu öffnen. Ihr inneres Auflehnen ging sogar soweit, daß sie einen Augenblick lang zögerte. Die kleinen dunklen Männer im Boot sahen sie geduldig, doch mit großer Sorge an, und ihre Augen schienen sie zu durchbohren. Ein brennendes Schamgefühl stieg in ihr auf, als hätten die Ereignisse der vergangenen Nacht sich in der Sprache der Lust auf ihrem Antlitz eingegraben. Das Geläut der Glocken verklang ruhig über dem Wasser, und Morgaine fühlte sich in ihre Kindheit zurückgeweht. Sie hörte Vater Columba streng über die Keuschheit predigen. Er sagte, sie sei der einzige Weg, um der Heiligkeit der Jungfrau Maria am nächsten zu kommen. Die Mutter Gottes hatte durch ein Wunder ihren Sohn unbefleckt von der Sünde der Welt empfangen. Selbst damals dachte Morgaine:
Was für ein Unsinn! Wie
kann eine Frau ein Kind gebären, ohne bei einem Mann gelegen zu haben?
Doch
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