Die Nibelungen neu erzählt
Liebe unglücklich ist, eine Liebe, die nur einseitig empfunden wird. Denn Kriemhild liebte Hagen von Tronje nicht im mindesten.
Zum zweiten war diese Liebe aus einem gesellschaftlichen Grund unglücklich, denn wenn Kriemhild Hagen auch geliebt hätte, die gesellschaftliche Schranke, die die beiden trennte, wäre für sie nicht zu überschreiten gewesen. Hagen von Tronje war der Lehnsmann von Kriemhilds Bruder Gunther. Hagen von Tronje war nicht standesgemäß.
Das alles wußte Hagen, und so kühn seine Gedanken im allgemeinen auch waren, über diese Standesschranken hinweg vermochte er nicht einmal zu denken, geschweige denn zu handeln.
Trifft es tatsächlich zu, daß er Kriemhild liebte, dann war es eine heimliche, eine stille, eine hoffnungslos unglückliche Liebe.
Hagen und Kriemhild
Es lag also durchaus in Hagens Interesse, daß Kriemhild unverheiratet blieb. Und er tat alles, um sie in ihren hohen Ansprüchen irgendwelchen Bewerbern gegenüber zu bestärken. Und er tat das sehr geschickt. Er war ein Diplomat, ein Ränkeschmied auch. Er wußte, wie man mit widerspenstigen Charakteren, wie Kriemhild einer war, umgehen mußte.
Er sprach oft mit ihr. Er war ihr Vertrauter. Nachdem ihr Vater gestorben war, nahm er so etwas wie Vaterstatt an.
Er sagte zu ihr: »Kriemhild, Ihr müßt Eure Ansprüche etwas niedriger ansetzen. Seid nicht so anspruchsvoll! Seht Eure Bewerber erst genau an. Ihr entscheidet Euch zu schnell! Bei manchen Charaktereigenschaften dauert es länger, bis sie zum Vorschein kommen.«
Er wußte: Wenn er so etwas zu ihr sagte, würde sie nur noch anspruchsvoller sein, noch kurz angebundener gegenüber ihren Freiern. Kriemhild neigte in ihrer Jugend dazu, gerade das Gegenteil von dem zu tun, was man ihr riet.
Sie sagte: »Hagen, was erzählst du mir da! Bei welchen Charaktereigenschaften soll es länger dauern, bis sie zum Vorschein kommen? Sag mir das!«
»Bei Klugheit zum Beispiel«, sagte er. »Klugheit kann ein durchaus verborgener Wert sein – jedenfalls bei den meisten Menschen.«
»Wieviel Klugheit, meinst du, setze ich bei einem Mann, der ein Leben lang an meiner Seite stehen soll, voraus?« fragte sie. »Ich will dir antworten, Hagen: So viel Klugheit, daß sie sich auf seinem Gesicht gegen alle Zeichen anderer Eigenschaften durchsetzt. Oder glaubst du, daß ein Mann, der weniger klug ist als ich, zu mir paßt?«
»Natürlich nicht«, sagte Hagen. »Aber Herzensgüte«, sagte er und tat, als wollte er ihr Widerpart bieten, »Herzensgüte kann erst erkannt werden, wenn sie sich offenbart, und sie offenbart sich erst in der Not des anderen.«
»Und was mache ich, wenn sich in meiner Not die Herzensgüte nicht offenbart? Nehmen wir an, ich gerate nach zehn Jahren Ehe in Not. Was mache ich dann, wenn mein Mann über diese Herzensgüte, diese absolut verborgene, nicht verfügt?«
»Dann werdet Ihr auf Euch selbst und auf Eure Freunde bauen müssen.«
»Das tue ich jetzt schon. Du bist mein Freund, Hagen. Auf dich verlasse ich mich. Und auf mich selbst kann ich mich auch verlassen.«
»Jede Ehe ist ein Risiko«, sagte Hagen. Er wußte, es war nicht klug, Kriemhild recht zu geben. Sie mochte es, wenn man ihr widersprach.
»O nein«, sagte sie, »Gott im Himmel hat dem Menschen Augen gegeben, damit er mit ihnen auf die Welt sehe, aber auch damit man durch sie in sein Herz blicken kann. Und man kann ja auch tatsächlich durch die Augen ins Herz blicken. Und wenn man nicht schon beim ersten Blick die Güte im Herzen sieht, dann ist dort eben keine Güte. Das ist meine Überzeugung, Hagen.«
»Und wie sollte ein Mann denn sein, damit er für Euch als Gatte in Frage kommt?« fragte Hagen.
»Nun, zunächst sollte sein Kopf geübter sein als seine Fäuste. Was er von Natur ist, was er durch Erwerb besitzt und welchen Ruf er genießt, das alles sollte zuallererst auf seine Geistesgaben zurückzuführen sein. Er sollte von der Natur mit Schönheit, Güte, mit einem unbeugsamen Charakter, mit Kraft und Temperament ausgestattet sein.«
»War bisher keiner unter Euren Freiern, der eine solche Persönlichkeit darstellte?« fragte Hagen.
»Vielleicht schon«, sagte Kriemhild. »Aber dann fehlte ihm anderes.«
»Was fehlte ihm?«
»Er sollte auch reich sein. Sehr reich. Er sollte uns mehr geben als wir ihm.«
»Aber«, sagte Hagen, »ich habe die reichsten Prinzen unter Euren Verehrern gesehen.«
»Aber dann hatten sie keinen guten Ruf«, entgegnete Kriemhild.
»Ach«, seufzte Hagen
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