Die Nibelungen neu erzählt
haben eben andere Spiele als wir. Sie sind ja Stiere, und wir sind Menschen. Habe ich etwas falsch gemacht bis hierher?«
»Nein, nein«, sagte der Vater. »Aber erzähl weiter!«
»Und dann lief der Stier auf mich zu. Ich merkte plötzlich, das war gar kein Spiel, der will mich töten. Und da wußte ich nicht, was ich tun sollte. Um wegzulaufen, war es zu spät. Ich habe den Stier bei den Hörnern gepackt. Da habe ich ihn getötet. Sonst hätte er mich getötet. Hätte ich das zulassen sollen?«
Der Vater lachte und sagte: »Nein, natürlich nicht, Siegfried.«
Auch der Vater wußte nicht, wie er mit dieser unbändigen Kraft seines Sohnes umgehen sollte.
Er fragte seinen Berater: »Was soll ich mit meinem Sohn tun?«
Der riet: »Gebt ihm Gelegenheit, seine Kraft nützlich einzusetzen! Laßt ihn arbeiten.«
Siegismund ließ Siegfried schwere Arbeiten verrichten, damit seine Kraft gebunden würde. Aber das führte nur dazu, daß Siegfried noch stärker wurde und daß er noch weniger Herr seiner Muskeln war.
Immer wieder sagte sein Vater zu ihm: »Siegfried, du wirst eines Tages in die Welt hinausgehen. Siegfried, du mußt eines Tages dein eigenes Leben führen. Wie sollst du das machen, wenn du diese Kraft nicht beherrschen lernst?«
Da wurde Siegfried sehr nachdenklich und sagte: »Wie ist das, das eigene Leben, wie ist die Welt draußen, was soll das sein?«
Er stellte sich auf die Zinnen der väterlichen Burg und blickte hinaus und fragte sich: »Wo dort draußen beginnt die Welt? Hinter dem kleinen Wald dort vorne? Oder dort hinter dem Berg? Wo beginnt sie, die Welt?«
Immer wieder fragte er seinen Vater danach, und eines Tages, da war Siegfried zu einem jungen Mann herangewachsen, sagte sein Vater zu ihm: »Hör zu, Siegfried, nun bist du alt genug. Such deine Welt!«
»Meine Welt?« fragte Siegfried. »Hat denn jeder seine eigene Welt?«
»Manchmal denke ich es mir«, sagte der Vater.
»Weißt du es nicht?«
»Nein, ich weiß es nicht. Aber es ist nicht wichtig, Siegfried. Die Welt, die du findest, ist deine Welt, und weil du sie ja nur aus deinen Augen ansehen kannst, ist sie zugleich auch die Welt der anderen. Beginne dein eigenes Leben! Zieh hinaus!«
Und Siegfried, der sich noch niemals vor etwas gefürchtet hatte, wurde unsicher, stammelte: »Wie mache ich das, Vater?«
Der Vater sagte: »Ganz einfach! Öffne das Tor und geh hinaus!«
Und Siegfried tat es.
Seine Mutter umarmte ihn und gab ihm noch auf den Weg: »Wenn du das Leben gefunden hast, Siegfried, und deine Welt oder wenn du irgend etwas gefunden hast, von dem du meinst, daß es nun dir gehört, dann komm wieder zurück!«
Sie wollte ihren Sohn nicht verlieren. Und Siegfried versprach es ihr.
Er ging. Setzte einen Fuß vor den anderen. Zählte hundert Schritte und dann noch einmal hundert. Drehte sich um, sah die Burg seiner Eltern hinter sich und ging weiter.
Er dachte: Was mache ich denn? Ich mache ja nichts weiter als einen Schritt nach dem anderen. Wie weiß ich, wann die Welt beginnt?
Mime, der Schmied
Es war nicht zu spüren, daß die Welt begann. Und so wußte er nicht, wann und wo sie begonnen hatte.
Dann wurde es Abend, und er meinte, die Welt immer noch nicht gefunden zu haben. Nichts hatte sich verändert, außer daß ein bohrender Hunger ihn quälte.
Er war in einem Wald, und da hörte er Geräusche, die klangen so, als ob Eisen auf Eisen schlüge.
Er kam zu einer Lichtung, es war noch gerade hell genug, daß er erkennen konnte, was hier vor sich ging. Da brannten Feuer. Um diese Feuer herum standen rußige Männer, die hatten große Hämmer in den Händen. Mit diesen Hämmern schlugen sie auf Ambosse. Funken stieben.
Es war eine Schmiede. Es roch nach Essen, und Siegfried hörte eine Glocke schlagen, und er hörte eine Frau rufen.
Und die Frau rief: »Kommt, Männer, kommt! Das Essen ist fertig! Geröstete Kartoffeln mit Speck und Zwiebeln, dazu Schweinebraten! Kommt, Männer! Und Bier gibt es auch!«
Da trat Siegfried auf die Lichtung und rief: »He, ihr! Darf ich mit euch essen, darf ich mit euch trinken? Ich habe Hunger und habe Durst! Die Frau hat so schöne Sachen angekündigt. Da kann ich es nicht aushalten, im Wald zu stehen und euch zuzuschauen.«
Die rußigen Männer standen breitbeinig vor ihm und blickten ihn an. Es sah so aus, als wollten sie nichts hergeben.
Dann kam ein großer, schwerer Mann auf Siegfried zu und sagte: »Warum stellst du dich nicht zuerst vor? Es gehört zur
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