Die niederländische Jungfrau - Roman
auf der Stelle, nahm Stellung, drehte meine Waffe zum Handballen hin, starrte auf seine Florettspitze, auf seine Augen. Oh, hätte er eine Maske getragen, hätte ich es bestimmt geschafft.
»Verstehst du jetzt, warum ich gestern gefragt habe, ob du gegen dich selbst fechten kannst?« fragte er, während er mit einer blitzschnellen Kreisparade meine Waffe wegschlug. »Ich weiß, was du tust, bevor du es auch nur beschlossen hast.«
Ich glaubte nicht ans Trainieren vor dem Spiegel. Als ob man nichtsahnend auf sich selbst zuschnellen könnte. Ein Spiegelbild stellt sich im Bruchteil einer Sekunde wiederher, doch wenn man den Spiegel wegnimmt, schleichen sich die Fehler erneut ein wie Diebe bei Nacht. Manche vergleichen Fechten mit Schachspielen in Höchstgeschwindigkeit. Das Spektakel ist nichts im Vergleich zu der Kraftanstrengung, die hinter der Maske aufgebracht wird. Wirft man diese ab, um besser zu sehen, dann merkt man, daß nicht das Drahtgeflecht den Blick verschleiert, sondern die eigenen Gedanken, die beschleunigen oder verlangsamen die Schritte. Im einen Moment ist alles noch klar: Da ist der Gegner, in Ausfallsabstand, er will seinen bewaffneten Arm mit einem Schritt nach vorn strecken. Wird er dann nicht zu nah kommen? Wie sollte er auf diese Entfernung noch treffen können? Das ist nicht logisch, näher wird er nicht kommen. Wahrscheinlicher wäre es, wenn er … zu spät! Zu viel nachgedacht. Von Bötticher zufolge durfte man sich nicht auf seine Augen verlassen, die verspielten Bilder ans Gehirn. Es gebe etwas Stärkeres, etwas, das nicht zu fassen sei, eine vage, wehmütige Erinnerung an verlorene Kräfte, die einem im Magen rumore und sich in der Nase bemerkbar mache. Oder was davon noch übrig sei. Für Tiere seien Gerüche am wichtigsten, bei uns sänken sie auf den Grund des Gehirns. Das komme vom Aufrechtgehen. Erst sehen, dann zugreifen, so machten wir das schon seit Hunderttausenden von Jahren. Doch welcher Fechter kenne nicht dieses euphorische Staunen, wenn seine Waffe ungesteuert, in Sekundenschnelle und offenbar ohne den geringsten Widerstand auf dem Körper des Gegners landet?
»Hunde beißen ihren Herrn, bevor sie es bereuen können«, sagte von Bötticher. Ficht nach dem Gefühl, nur dann bist du schnell. Nach deiner Motivation, auch in Ordnung. Belohnung und Strafe greifen blitzschnell.Angst, Genuß, Hunger, Durst: nehmen alle den kurzen Weg. Willst du mich überhaupt treffen? Hast du Angst vor mir, oder findest du mich vielleicht zu nett?«
Ich traf ihn voll unter einer Rippe, nach einer Stoßfinte auf seine kaputte Wange. Er wankte, fuhr rasch wieder mit seinen Erläuterungen fort, wobei er sich hinkend bewegte. »Gut, einverstanden. Du warst irritiert und hast angegriffen. Aber paß auf. Fechten nach Intuition heißt nicht, daß man die Technik einfach vergessen kann. Die Bewegungsabläufe müssen sich erst einschleifen.«
Mit beiden Händen zog er an einem imaginären Zügel. »Bist du mal geritten?«
Ich nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Meine Oma hatte ein Wagenpferd mit jenem flauschigen, grau gewordenen Fell, das alte Tiere so rührend macht. Es duldete meine baumelnden Beine, ließ sich aber nicht von ihnen anspornen. Wenige Beschäftigungen waren so beruhigend wie die kurzen Ritte von Hof zu Hof auf dem Rücken eines sprachlosen Wesens, das bereits viel länger auf dieser Erde herumtrottete als man selbst.
»Ich werde Leni bitten, dir Reitkleidung bereitzulegen«, sagte von Bötticher. »In einer halben Stunde erwarte ich dich zum Frühstück, danach will ich dich reiten sehen. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich setze dich auf das unkomplizierteste Pferd und werde es an der Longe laufen lassen. Du wirst viel lernen dabei. Alles, was ich dir heute erzählt habe, wird an die richtige Stelle fallen. Los jetzt!«
Vier Nächte hatte ich auf Raeren verbracht. Ich wurde bereits geduzt, mein Leben lag vollständig in den Händen des Meisters. Mein Bett stand unter seinem Dach, und er bestimmte, wann ich mich mit meiner »persönlichen Hygiene« zu beschäftigen hatte: eine halbe Stunde, bevor ichmir etwas von seinem Essen in den Mund steckte. Gehorsam stand ich vor dem Dachfenster, die Füße in einer Waschschüssel. Heinz hatte es bereits vergittert, hinter dem Maschendraht hockte eine Ringeltaube und döste vor sich hin. Sie schlug ihr gelbes Knopfauge auf, als ich das Wasser fließen ließ. Beim Aufstehen hatte ich im Waschraum eine Kanne mit Wasser gefüllt
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