Die niederländische Jungfrau - Roman
Aber ich lauschte lieber dem, was Siegbert zu erzählen hatte. Zu der Zeit waren wir alle dem Spiritismus verfallen. Meine Freundinnen gruselten sich in den Hinterzimmern ihrer elterlichen Wohnungen in Ekstase. Ich wunderte mich über die Routine, mit der sie Buchstaben aus einer Zeitung ausschnitten, ein Kreuz aus zwei Latten machten und der Stille ihre Fragen stellten. Im entscheidenden Augenblick brach fast immer ein Ehestreit durch die dünnen Wände. Es herrschte eine enorme Spannung in den Limburger Haushalten der Krisenjahre, aber es war nicht die Spannung, auf die wir aus waren. Auf Raeren freute ich mich auf die richtige. Die Zwillinge kannten das Haus schon länger, bei ihrem letzten Aufenthalt hatten sie in dem Dachzimmer geschlafen und Besuch bekommen von einer Menge – kleiner Teu-fel, meinte Friedrich, umherirrender Geister, meinte Siegbert –, doch wie dem auch sei, hier war es nicht geheuer, und das würden wir jetzt erleben.
»Das Dachzimmer, das ist meins«, sagte ich. »Ich hab noch nichts gemerkt.«
»Dann paß bloß auf«, sagte Friedrich. »Denn kommen werden sie. Wer sie sind, wissen wir nicht, aber es sind viele. Wenn du gut hinhörst, kannst du sie reden hören. Säuselnde Flüsterstimmen. Mir läuft es noch kalt den Rücken runter, wenn ich nur daran denke!«
»Komm, wir gehen hin«, sagte Siegbert. »Dann wirst du schon sehen, wie es da spukt.«
Und während die Erwachsenen die Nacht mit kaltem Wasser und Beschäftigungen abzuschütteln versuchten, flüsterten wir durcheinander wie kleine Kinder, stürmten die Treppen hinauf zu unserem obskuren Abenteuer, als wäre draußen der Tag noch nicht angebrochen mit seinem glühenden Verstand.
»Warte, laß mich vorgehen!« sagte Siegbert. Wir standen vor meiner Tür. Er langte nach der Klinke, doch die senkte sich von selbst. Im nächsten Moment wurden wir von einer Lichtflut geblendet. Dort, mitten im Zimmer, in einer Wolke aus Staub, stand eine Silhouette wie angenagelt. Die Zwillinge flogen die Treppe hinunter.
»Diese Bengel«, brummelte Leni, während sie den Bezug meines Kopfkissens abnahm. »Kaum zu glauben, daß sie alt genug sind, zum Militär zu gehen.«
Ich hörte nur halb hin und versuchte derweil, mir nichts anmerken zu lassen. Die Balkontür stand auf. Leni hatte den Maschendraht weggebogen und die Steine geschrubbt.
»Hattet ihr keinen Unterricht?«
»Wir mußten uns selbst amüsieren. Der Meister ist krank, haben sie gesagt.«
»Wer hat das gesagt? Die Jungs? Hör nicht auf sie, Janna. Diese Dummköpfe wissen gar nichts. Der Meister ist schon vor einer Stunde aufgestanden. Frisch wie eine Bachforelle.« Sie trat auf den Balkon hinaus und deutete in die Ferne. »Da, sieh selbst!«
Über den Hügel galoppierte ein Reiter. Nur der lockereZügel in seiner Hand deutete auf die Möglichkeit hin, daß diese schwebende Dreieinigkeit – Reiter, Pferd und Schäfchenwolken über ihren Köpfen – auseinanderfiel. Wer riß wen mit? Der junge Gott das Pferd, das unter ihm tänzelte, oder umgekehrt? Der Reiter mit seinen langen Beinen und dem geschmeidigen Rücken hatte wenig Ähnlichkeit mit meinem Fechtmeister.
»Ich mache mir Sorgen, Janna.« Lenis Haare rochen nach dem gestrigen Essen. Ich trat einen Schritt zurück, sie sah mich bekümmert an. »Heinzi hat den Chef mißtrauisch gemacht mit seinem Geschwätz. Und diese Jungs, Heinzi sagt, die hätten schon längst zum Militär gemußt. Aber die Mutter will ihre armen Kleinen nicht an die Wehrmacht verlieren, sie ist keine Patriotin, soviel ist klar. Warum läßt sich der Chef für so was einspannen? Ich traue dieser Frau nicht. Das Schlimmste ist, daß der Chef nach Heinzis Tirade allen Grund hat, uns nicht zu trauen. Ich bin nicht sicher, ob er uns hierbleiben läßt.«
Mit einemmal verzog sie das Gesicht, es machte sie zu einer anderen Frau. Ich hatte so meine Befürchtungen. Wenn Leni die ganze Zeit über in meinem Zimmer gewesen war, welcher Spuk, welche Schritte waren es dann gewesen, die wir im Fechtsaal gehört hatten?
»Aber Heinzi sagt, die Zeiten haben sich geändert«, schnaubte sie. »Er sagt, die Rollen sind mittlerweile vertauscht und der Chef kann froh sein, wenn er bleiben darf.«
Von Bötticher kam durchs Tor getrabt. Der mächtige Kavallerist. Mein lieber Leibhusar . In einer Zeitschrift hatte ich ein Foto von der deutschen Kaisertochter im Husarenkostüm gesehen. Ein knabenhaftes Mädchen in einer reichbestickten Jacke, ein schwaches Lächeln auf dem
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