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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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bis Siegbert mit einem Stück alten Eisens zurückkam. Wir halfen nicht, als er zählend durchs Gras schritt.
    »Sonst finden wir das Grab nie mehr wieder«, unterbrach er sich selbst.
    »Sigi war schon immer gut in Geometrie«, sagte Friedrich. »Alles abzirkeln, ausmessen, nebeneinanderlegen. Er will Landvermesser werden. Einen Theodoliten rumschleppen. Schauen, ob alles stimmt auf der Erdoberfläche. Ich kapiere nichts davon, und ich will’s auch nicht kapieren.«
    Sein Bruder hieb mit dem stumpfen Eisen auf die trockene Erde ein. Bei jedem Schlag fiel ihm sein blondes Haar ins Gesicht, ein paarmal wischte er sich mit dem Handgelenk die Nase. Mein Vater hätte gesagt: »Ein Bursche wie Jan de Witt.« Dazu hätte er eine mißbilligende Miene gezogen, denn er mißtraute Kerlen, die immer unbedingt, wegen jeder Kleinigkeit, die Ärmel hochkrempelten, um zuzupacken. Als ich so zwischen den Zwillingen stand, mußte ich an das Sprichwort über einen der berühmten Brüder de Witt denken, an die man sich vor allem ihres grausamen Todes wegen erinnerte, obwohl der eine doch ein mutiger Seefahrer gewesen war und der andere nicht nur Staatsmann, sondern auch Geometer. Geometer wohlgemerkt! Ich wollte es Friedrich gerade erzählen, aber er kam mir zuvor: »Du hältst meinen Bruder bestimmt für einen richtigen Kerl, nicht wahr?«
    Er sah mich durchdringend an. Ich fing an zu stottern.
    »Im Gegenteil. Ich meine, nicht unbedingt, ihr seid beide …«
    Irgendwas ging hier vor sich. Ich hoffte, es wäre nur der Himmel, der sich so schnell zugezogen hatte, daß wir uns in Silhouetten verwandelten. Oder das dunkle Krächzen der Krähen, die das Grab bereits entdeckt hatten. Doch es waren die Zwillinge. Als wir zum Haus zurückgingen, mieden sie einander krampfhaft. Sie behielten mich in der Mitte und schwiegen, oder schnitten sich gegenseitig das Wort ab, indem sie sich nachdrücklich an mich wandten. Ratlos ging ich schneller, bis eine Salve unerwarteter Geräusche alles auflöste. Aus Richtung der Terrasse, die hinter den Kastanien auftauchte, ertönte nacheinander ein Gewehrschuß, ein Frauenschrei, ein Motor, der abgewürgt wurde, und eine unerkennbar verzerrte Männerstimme, die durch das Tosen des Windes hindurch »Julia!« schrie.
    Die Zwillinge rannten los, ihre Mutter rufend. Ich blieb hinter den jungen Kastanien stehen, es kam gar nicht in Frage, ihnen zu folgen. Julia, die Mutter. Durch das Laubwerk sah ich ihre Konturen. Sie stand mitten in der Auffahrt, in einem hauchdünnen rabenschwarzen Kleid. IhreHand lag auf der Autotür. Der Himmel war jetzt so dunkel, daß das Land keine Farbe mehr aufwies. Das Gras war grau, die Bäume schwarz, und dahinter stand das schneeweiße Haus, auf der Terrasse der Eigentümer, das Gewehr an seinem Zeigefinger schwebend, den Lauf auf das einzige gerichtet, das sich in diesem Moment bewegte: ein Hase im Todeskampf. Zuckend sprang er immer wieder hoch, wie Wasser in einem Springbrunnen. Das Ganze vielleicht einen Meter von der Frau entfernt. Sie blieb reglos stehen, als Egon das Visier ans Auge drückte, um den Schuß abzufeuern, der den Hasen reglos machte und den Rest in Bewegung setzte. Dann platzte der Regen los. Die Frau beugte sich vor, zog das Kleid von ihrem Körper weg, lief in tänzelndem Trab, die Tasche über dem Kopf, zur Terrasse. Die Zwillinge sprangen hinzu, klammerten sich an ihr fest. Der Wind hielt ihre Worte außer Hörweite, aber ohne allzu große Mühe sah ich sie, weiß auf schwarz:
     
    »Mutter, bleib weg, du siehst jetzt, was der Golem im Schilde führt!«
    »Ach, meine Lieblinge, er schießt doch nie daneben. Laßt uns schnell vor dem Gewitter ins Haus laufen!«

3
    Schöner Gigolo, armer Gigolo,
    denke nicht mehr an die Zeiten,
    wo du als Husar,
    goldverschnürt sogar,
    konntest durch die Straßen reiten.
     
    Egon hielt die Hände flach an die Ohren gedrückt, wahrscheinlich hörte er den Text nicht einmal. Julia hatte nach dem Essen das Grammophon auf den Tisch gestellt. Die Schallplatten gehörten ihr. Sie hatte sie mitgebracht, weil »der da« aufgemuntert werden mußte. Aber »der da« blickte hinaus, wo der Regen anhielt, wo die Erde Gerüche verströmte, die er mehr liebte als das Parfüm, das sie aufgelegt hatte. Er wollte weg, durch die Felder streunen, wie ich es öfter beobachtet hatte, wenn es naß war, sich bückend, um sich Dinge an die Nase zu halten, sie mitzunehmen, an den Balken zu trocknen, wo sie von Woche zu Woche anders rochen. An

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