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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wissen.
    »Die Geschichte handelt nicht vom Krieg, keine Bange«, sagte Gil beruhigend, als ich an die Kasse trat. »Sie spielt im sechzehnten Jahrhundert, im Prager Getto. Sie hat sogar ein Happy-End. Allerdings gibt es keinen Ton. Nur damit du das weißt.«
    In der eisigen Stille sah ich das Getto, das von oben beleuchtet wurde, als hätte die Finsternis darüber damalsnoch ein Fenster gehabt. Der Rabbi beugte sich über seine Formeln, hob die Hände gen Himmel, starrte zu den Sternen empor, löschte das Licht. Andere Szenen hatten schwarze, ausgefranste Ränder, wirkten wie unter einer Hand hervor gefilmt oder durch einen Köcher. In der Ferne wurde der Ritter vom Turm geworfen. Ruck zuck, tot. Der Film ging weiter, doch gerade weil es keine unheilverkündende Musik dazu gab, erschrak ich fürchterlich. Gil, auf dem Sitz neben mir, fand das rührend. Ihm zufolge waren die Zeiten, in denen das Publikum sich noch mit der Rolle des Voyeurs begnügte, endgültig vorbei. Es wolle nicht mehr in Stille zuschauen, meinte er. Es zahle für Filme mit Liedern, die man nachsingen, mit Tänzen, die man einstudieren könne, oder für den neuesten Renner aus Amerika: die Stereoskopie, so daß es sich kreischend auf den Sitzen ducken könne, wenn ein Zug herandonnere. Dieselben Leute, die wenige Jahre zuvor lieber im Hintergrund der Realität geblieben seien, zahlten jetzt, ohne zu zögern, für die Illusion, teilzunehmen.
    »Siehst du, daß nicht jeder Film Ton braucht?« flüsterte er. »Der Golem spricht ja bekanntlich nicht. So steht das bereits im Talmud geschrieben. Der Legende zufolge schiebt der Rabbi ihm Worte auf Pergamentstückchen in den Mund, damit er gehorcht.«
     
    Der Golem aus dem Film glich von Bötticher nicht im entferntesten. Er wurde vom Regisseur verkörpert, einem dilettantisch spielenden Dickwanst mit hängenden Mundwinkeln. Das einzige, was sie gemeinsam hatten, war ihre Schweigsamkeit. Auf Raeren wußte ich bereits, daß ich von Bötticher Worte in den Mund legen mußte. Solange er schwieg, konnte ich aus ihm machen, was ich wollte. Doch die Zwillinge meinten, ich solle den Golem mit seinen bösartigen Absichten in Ruhe lassen. Schlafen lassen, nie mehr wecken.
    »Wenn ich schlafen will«, sagte Siegbert, »brauche ich Fritz nur zu wiegen, dann fallen mir die Augen von allein zu. Ich lulle ihn ein, rede ganz leise, und wenn ich sehe, er duselt ein, dann übermannt auch mich der Schlaf.«
    Während sie mir das demonstrierten, nickten sie tatsächlich ein, ihr Haar wie warmes Bienenwachs auf meiner Brust, ihre Engelshände in meinem Schoß verschlungen. Erst als ich ihren gleichmäßigen Schlafatem hörte, traute ich mich, selbst frei zu atmen. In tiefen Zügen sog ich das nahende Gewitter in mich ein. Am violettfarbenen Himmel wirbelten flauschige Wolken, wie Soldaten in Schlachtordnung. Es herrschte die Art von Licht, die alles überscharf zeichnet: das verwitterte Kranzgesims am Raerener Dach, die Poren in der Gänsehaut der Zwillinge, den Nerv im Grashalm zwischen meinen Zähnen. Sturm schwoll an, flaute ab, schwoll an. Das Gras schreckte zurück. Geraschel, Geschnaufe. Etwas kam näher. Ein haariges Teufelchen. Als ich mich aufrichtete, sah ich den kleinen Hund des Meisters. Er hielt etwas im Maul. Beunruhigt ließ er es fallen: die Leiche eines Maulwurfs. Mit seiner schwarzen Jacke, den geschlossenen Augen und den gefalteten Händchen glich dieser noch am ehesten einem betenden Pater. Die Zwillinge rieben sich den Schlaf aus den Augen und jagten den Hund weg. In geringer Entfernung blieb er stehen, um zu sehen, was wir mit seiner Beute vorhatten.
    »Den begraben wir besser«, sagte Siegbert. »Sonst fängt er an zu stinken.«
    Wir brachten unsere Kleidung in Ordnung. Siegbertverschwand zwischen den Grashalmen, um einen Stock zu suchen, mit dem wir ein Loch graben konnten.
    »Wenn es jetzt gleich zu schütten anfängt, geht das viel leichter«, rief er. »Wir machen eine Höhle für ihn, wie er sich selbst eine gegraben hätte.«
    »Eine Höhle, wie er sich selbst eine gegraben hätte«, wiederholte Friedrich. »Wie kriegen wir das hin?«
    Er blickte auf, fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Da kicherten wir los. Wir waren Kinder geblieben. Ich war dankbar, daß sie unsere Unschuld bewacht hatten, die von uns dreien.
    »Ihr seid echte Musketiere«, sagte ich. »Einer für alle, alle für einen.«
    Friedrich machte eine kleine Verbeugung. »Zu Ihren Diensten, Madame.«
    Wir starrten zum Himmel hinauf,

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