Die niederländische Jungfrau - Roman
dich dann noch wie ein Wilder auf deine Beute stürzen? Nur dank seiner Vernunft bleibt der Mensch unverletzbar. Nicht durch Flaggezeigen, gesträubte Federn oder Gebrüll im Wald. Es ist so verblüffend, sich diese Weisheiten aus dem siebzehnten Jahrhundert anzusehen, während wir jetzt gerade wieder ins Zeitalter des Tiers zurückgefallen sind.«
»Was ist falsch an Tieren?« fragte Egon. »Man muß das Tier in sich hegen. Nur das Raubtier ist vollkommen frei, weil es umherzieht und kämpft, obsiegt und verschlingt. Zuviel Kultur führt zu Degeneration.«
»Vielleicht bist du nationalsozialistischer, als du glaubst, mein Freund.«
»National vielleicht, sozialistisch auf keinen Fall.«
Und wieder erhoben sie die Gläser, grinsend. Ich zog den Stich näher heran. In der linken Ecke stand ein üppig ausstaffierter Fechter einem Mann in Lumpen gegenüber, der ihm einen Tritt zu verpassen versuchte. Klugheit gegen blinde Kraft, kindgerecht dargestellt.
»Weißt du«, griff der Otter den Faden wieder auf, während er zu den Zwillingen trat, »im siebzehnten Jahrhundert wußte man bereits, daß es sinnlos ist, wie ein Tier um sich zu schlagen. Denn schließlich genügte ein gezielterStich, um dem Gegner die Luft aus den Lungen zu nehmen.«
Er ließ seine Hand auf Friedrichs Brustkorb ruhen, dort, wo das Hemd aufgeknöpft war. Die beiden wurden gut gekleidet von ihrer Mutter. Sie hatten deutlich mehr Klamotten dabei als ich, und offenbar waren sie auch in der Lage, sie eigenhändig anzuziehen. Jeden Tag ein anderes feinmaschiges Hemd, darüber eine Wolljacke oder ein Pullunder, manchmal Hosenträger, nie eine Krawatte. Vielleicht zogen sie sich gegenseitig an. In den letzten Tagen hatte ich sie immer öfter in Aufzügen gesehen, die sie voneinander unterschieden.
»Obwohl das medizinisch gesehen eigentlich falsch ist«, sagte der Otter. »Die Formulierung, meine ich. Ein Pneumothorax ist die Folge eines Lungenfuchsers, gerade weil Luft zwischen die Pleuren getreten ist.«
Friedrich sah von seiner Brust zu mir, ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, er auch nicht. Wie schön er doch war, einfach skandalös, und das Schlimmste war, er wußte es selbst so gut. Der Otter hatte jetzt Siegberts rechten Arm gepackt und angehoben, bis die Finger auf Friedrichs Brust zeigten. Ich weiß nicht, warum ich wegschaute. Vielleicht war es der Blick, den Siegbert seinem Bruder zuwarf, weil er die Blicke zwischen Friedrich und mir bemerkt hatte. Mir war nicht nach diesem Kampf der Blicke.
»Ein Lungenfuchser«, fuhr der Otter fort, während er imaginäre Linien vom einen Zwilling zum anderen zog, »ist das Resultat eines Stichs, der alle anderen überflüssig macht. Thibaults Lehre war ausschließlich für die hohen Herren ausgetüftelt worden. Exklusives Wissen für Körper, die streng bewacht werden mußten. Heutzutage können Bauern Panzer bedienen, aber damals hatten die unteren Schichten keinen Zugang zur Fechtkunst, zum Glück. Man kann es ganz einfach lernen, Egon. Sieg ist Algebra. Algebra für die Privilegierten.«
Egon saß mit roten Augen am Tisch. Mit dieser Aussage konnte er nicht einverstanden sein. Die besten Fechter, hatte er mir gesagt, fochten ohne nachzudenken, aus dem Gefühl heraus, aus dem Impuls. Er hatte gesagt, daß das Gehirn hinter der Intuition zurückbleibe, daß Hunde ihren Herrn bissen, bevor sie es bereuen konnten. Jetzt glich er mit seinen blutunterlaufenen Augen selbst einem Hund; der Wolf, der sich dem Menschen gefügt hat. Ich konnte aus diesen Augen noch immer nicht schließen, ob er es wußte. Er drehte sich zum Otter um, der nach wie vor redete, während er um die Zwillinge einen imaginären Kreis zeichnete.
»An Thibaults Kreis ist nichts Magisches. Der Radius wird durch die Länge der Waffen beider Fechter bestimmt, die wiederum ihrer Körpergröße angepaßt sind. Für die Feinheiten rate ich euch, das Buch selbst zu lesen. Ich glaube, in den Amsterdamer Bibliotheken gibt es noch Exemplare, und in Barcelona. Darin verbirgt sich das Geheimnis der Unverletzbarkeit. Jungs, ihr könnt euch jetzt wieder setzen.«
Siegbert ging als erster zum Tisch zurück und rückte seinen Stuhl ein Stück von Friedrich weg, der frech meinen Blick einzufangen suchte, aber ich ignorierte sie alle beide.
»Auf dem Schlachtfeld kannst du es dir nicht leisten, den Feind als gleich zu betrachten«, sagte Egon. »Das habe ich seinerzeit auch zu Jacq gesagt, ihrem Vater, der für das Rote Kreuz gearbeitet
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