Die niederländische Jungfrau - Roman
bevor er verwundet und von der Front abgezogen wurde? Er blieb uns seine Erinnerung schuldig.
»Herr Reich, ich habe eine Frage an Sie«, fuhr er dann fort. »Sagen Sie mir als Arzt, warum der Tod die einen mitnimmt, während er andere unbehelligt läßt. Haben Siedarauf eine Antwort? Wer oder was bestimmt, daß manche unverletzbar sind?«
Während der Otter über eine Antwort nachsann, blieb Egon am Fenster stehen. Er konnte darin nur sein eigenes Spiegelbild erkennen, doch was immer da draußen war, machte sich mit Regen und Sturm schon genug bemerkbar. Es stürmte so stark, daß wir nicht einmal das Auto des Unparteiischen hatten wegfahren hören. Vielleicht war er ja gar nicht fort, sondern befand sich mit all seiner Feindseligkeit noch immer innerhalb der Tore Raerens. Vielleicht trank er mit seinen Kumpanen Tee bei Heinz, der ihren Abscheu gegenüber Egon teilte. Mir graute schon bei der Vorstellung, wenngleich ich nicht recht wußte, warum. Es ist verlockend, hinterher zu sagen, daß ich von Natur aus die richtige Seite wählte, daß ich ahnte, wer sich später falsch verhalten sollte und wer richtig; aber ich war nur verliebt. So wie er da am Fenster stand, melancholisch und unbeugsam zugleich: keine schwere Wahl.
»Auf jedem Schlachtfeld begegnet man ihm«, sagte er. »Dem unverletzbaren Soldaten. Man sieht ihn meist von hinten, denn er geht vor dir, ruhig, kerzengerade, während ihm die Kugeln um die Ohren sausen. Sie treffen ihn nicht, das weiß er. Aber mit deinem Staunen kommt auch die Erkenntnis, daß du anders bist. Daß du nicht zu den Unverletzbaren gehörst. Und genau das ist der Moment, in dem du getroffen wirst.«
Es wurde totenstill. Der Staub unter der Laterne sank herab, das Heulen im Schornstein erstarb. Die Zwillinge sahen einander an. Ich wußte, woran sie dachten. Etwas sagte mir, daß ihre weiße Haut nicht unversehrt bleiben würde, vielleicht weil ich mir so gut vorstellen konnte, wie rot das Blut darüberfließen würde.
»Unverletzbarkeit«, begann der Otter leise, »darüber habe ich mal eine bestechende Abhandlung gelesen. Kennen Sie Girard Thibault?«
Egon runzelte die Stirn. »Der Name kommt mir bekannt vor. Merkwürdig, ich kann mich nicht erinnern, woher.«
»Seine Lehrmethode, Académie de l’Espée , ist wahrscheinlich das ausführlichste Werk über die Fechtkunst, das je verfaßt worden ist. Siebzehntes Jahrhundert, Republik der Sieben Vereinigten Niederlande. Es lehnt sich stark an die Grundsätze der Spanischen Schule an.«
Egon ging zur Tür. »Ich bin gleich wieder da. Ich habe etwas, das Sie vielleicht interessieren wird.«
Als er den Fechtsaal verließ, wurde mir klar, daß er den Stich suchen ging. Thibault, ich hatte den Namen früher wiedererkannt als er. Mein Gott. Nicht jetzt.
»Sie kennen ihn bestimmt«, fragte der Otter, »Ihren Landsmann Thibault?«
»Schon mal gehört«, flüsterte ich. Ich wußte, daß Egon jetzt in seinem Zimmer war, sich über die Schublade beugte und sah, daß der grüne Umschlag, das komplette Poste-Restante-Kuvert mit seinen eigenen Briefen, verschwunden war. Vielleicht hatte er ja eine spezielle Ordnung in seinem Archiv, so daß ihm sofort klar sein würde, daß ich auch den Rest durchforstet hatte. Er würde meine Hände sehen, die in seiner Vergangenheit gewühlt hatten, die einfach entschieden hatten, was bleiben durfte und was nicht. Keiner der Gäste hatte auch nur die leiseste Ahnung von diesem Skandal. Die Zwillinge saßen sorglos da. Für sie wurde ohnehin alles entschieden. Sie brauchten keine Rätsel zu entschleiern oder sich in Diskussionen einzumischen. Sie brauchten sich nie für eine Seite zu entscheiden, denn sie waren selbst zwei Seiten.
»Er studierte Mathematik in Leiden, der alte Thibault«, sagte der Otter. »Danach gründete er eine Fechtakademie im Zentrum von Amsterdam. Alles, was Rang und Namen hatte in den Niederlanden zu jener Zeit, ging bei ihm in die Lehre. Heute sagt sein Name fast niemandem mehr etwas. Mein niederländischer Freund besaß ein paar Stiche von ihm, er hat mir einiges erläutert. Wenn man die Thibault-Methode wirklich befolgen will, muß man ziemlich viel Geduld aufbringen, doch am Ende wird es sich auszahlen. Wir dürfen uns nicht davon abhalten lassen, daß es bereits im siebzehnten Jahrhundert geschrieben wurde. Es würde uns auch heute noch sehr gut zupaß kommen. Gerade heute. In diesen Zeiten …«
Egon betrat den Saal und schaute sofort zu mir. Nicht böse, aber das hatte er
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