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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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hat: ›Hilft immer, jedem, überall.‹ Wie sollte man nach diesem Grundsatz kämpfen können? Wenn wir alle gleich sind und den anderen hassen, ist das dann kein Selbsthaß? Und wenn wir alle gleich sind und den anderen liebhaben, ist das dann kein Narzißmus?«
    Leni kam herein, um den Tisch abzuräumen, und machte uns darauf aufmerksam, daß es bereits Mitternacht sei. Ich konnte es kaum glauben. Es war, als hätte die Zeit erst zu laufen begonnen, nachdem sich der Sturm gelegt hatte. Unten sah ich, daß der Bus des Unparteiischen verschwunden war, doch seine Drohung hing noch im Raum. Die Paukanten verabschiedeten sich, ohne uns anzusehen. Ich bekam einen warmen Händedruck vom Otter.
    »Sie fahren also in zwei Wochen? Wir werden Sie vermissen.«
    »Mein Vater holt mich ab«, bluffte ich. Das war nicht abgesprochen, gar nichts war abgesprochen.
     
    Aber er wußte, wo ich war. Ich erinnere mich an seine Verblüffung, als er herausfand, daß Egon in Aachen lebte. Zufällig, obwohl meine Tante sagen würde, daß es keinen Zufall gibt. Sie hatte mir Die Woche mitgebracht, weil da ein Artikel über Theaterfechten drinstand. Ein Fechtmeister aus der Umgebung von Aachen hatte dabei geholfen, die Fechtszenen für Die drei Musketiere einzustudieren. Die Schauspieler waren Herrn Egon von Bötticher zu großem Dank verpflichtet. Mein Vater hatte die Zeitschrift sinken lassen und fassungslos aus dem Fenster gestarrt.
    »Zwei Kilometer«, murmelte er. »Zwei Kilometer pro Jahr. Das ist alles.«
    Hinter den Häusern sah er die Masten der Eisenbahnlinie. An deren Ende wohnte der Freund, den er vor zwanzig Jahren verloren hatte. Eine gerade Linie von vierzig Kilometer Länge, unterwegs von einer Grenze durchschnitten. Zwei Kilometer pro Jahr. Es war nicht zu fassen.

6
    Jemand rief mich, aber ich war vom Schlaf gelähmt.
    »Mädchen.«
    War das Deutsch? Ich spitzte die Ohren, dann wurde es verworren. Ein paar heftige, unzusammenhängende Ausrufe. Meine Beine waren noch immer schwer unter der Decke. Ich wollte nicht aufstehen, ich wollte hierbleiben. Ich hatte das Recht, hierzubleiben, in diesem Bett, im Dachzimmer von Raeren, das hatte man mir erlaubt.
    »…«
    »Was?«
    Meine Stimme klang hohl in der Dunkelheit. Ich mußte wohl die Augen öffnen.
    »Was hast du gesagt?«
    Er näherte sich in Fragmenten. Das Bild war nicht vollständig. Nur die linke Hälfte seines Körpers war bekleidet, die andere war nackt. Meine Lider wurden wieder schwer. Schlaf.
    »3,14   159   265. Ratio vincit.«
    Nun denn, raus aus dem Bett. Solche Dinge mußten sofort gelöst werden, sonst hörten sie nicht auf, einen zu stören. Es zog fürchterlich. Ich legte mir die Decke um die Schultern und tastete nach dem Lichtschalter, während er dort einfach stehenblieb. Mit seinen hervorquellenden Augen. Ja, ich erkenne dich, sagte ich, mach, daß du wegkommst. Er reagierte überhaupt nicht, als hätte ich die Worte nie ausgesprochen. Weg mit dir, verstanden? Was willst du noch von uns? Wo sind deine Kumpane? Hast du sie etwa nach Hause fahren lassen und hast selbst die ganze Nacht bei Heinz gehockt und geklatscht? Er trat einen Schritt vor, sein Penis baumelte. Es war ekelhaft. Die Fetzen, die die eine Seite seines Körpers bedeckten, sahen aus wie Soldatenklamotten, mit Troddeln an der Brust. Erst als er im Mondlicht stand, ging mir auf, was ich da sah. Eine halbe Leiche. Sein Körper bestand zur Hälfte aus Knochen. Sein Gesicht war lediglich auf einer Seite mit Gewebe bedeckt, die andere war ein Totenkopf. Ich schrie, aus vollem Hals jetzt, und schrie immer weiter, während er klappernd näher kam. Aus seinem Hals, der genau zur Hälfte seziert war, kamen keine Worte, sondern noch mehr Zahlen. Ich verstand nicht, wie, sie kamen nicht über seine Lippen, sondern bildeten sich einfach und füllten den Raum.
    »358   979   323   846   264   3   383   279.«
    Ich wurde auf der Treppe wach, beim Schein einer Kerze. Es war Heinz, mit dem Leuchter. Wir erschraken beide.
    »Was machst du hier?« fragte er als erster.
    »Das kann ich eher dich fragen«, sagte ich, vom nüchternen Ton meiner Stimme überrascht. »Dein Zimmer liegt weiter weg von hier als meins.«
    »Freches Ding. Ich mache hier meine Runde, wie ich das schon seit Jahren tue.«
    Er betrachtete mich von oben bis unten, ich schlang die Arme um meine Brust. Er ließ den Leuchter sinken.
    »Sie sind hier.«
    »Wer?«
    »Du spürst es auch, das sehe ich.«
    Er sagte es tonlos, aber mir

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