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Die Opfer des Inzests

Die Opfer des Inzests

Titel: Die Opfer des Inzests Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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Jahren. Es hatte keinen Namen mehr und bezeichnete sich selbst als »Anders«.
In ihrem Leben lief es nicht sehr gut. Und doch passierte in einem Augenblick,
da sie am wenigsten damit rechnete, etwas Unglaubliches: Sie begegnete einem
Weisen.
    Der Mann war von kleinem Wuchs und
hatte einen langen grauen Bart, so daß er ein wenig aussah wie der
Weihnachtsmann. Sein tiefgründiger Blick strahlte von der ganzen Güte,
Zärtlichkeit und Liebe dieser Welt.
    »Anders« fand ihn so schön, daß sie
sofort seinem Charme verfiel. Aber wenngleich sie sich am liebsten in seine
Arme geworfen hätte, blieb sie wie erstarrt stehen, fasziniert von diesem Mann.
    Nach einer Weile trat er auf sie zu.
Mit zärtlicher Geste nahm er ihre Hand. Dann, ganz plötzlich, drückte er sie so
fest, daß »Anders« ein kalter Schauer über den Rücken lief. Dann breitete sich
Wärme in ihrem Herzen aus.
    Der Weise hielt den Blick auf ihre Hand
gerichtet, und »Anders« spürte, wie sanft die seine war, trotz der Festigkeit
seines Händedrucks. In ihm war nur Harmonie. Er war so rein wie ein stiller
See, in dem »Anders« es genossen hätte zu ertrinken. Es war, als wäre sie
wieder ganz klein. Als erlebe sie einen magischen Augenblick, einen wunderbaren
Traum. Perfekt wie ihr Spiegelbild auf einem ruhigen Meer. Kein Windhauch, der
die Wasseroberfläche gekräuselt hätte; und plötzlich hatte das Leiden keinen
Platz mehr in ihr.
    In diesen kostbaren Minuten hatte der
Weise sie ihren Schmerz vergessen gemacht.
    Sacht die Stille brechend, murmelte der
Weise, den Kopf kaum merklich hebend:
    »Wenn du den Haß in dein Herz läßt,
wirst du eines Tages seine Gefangene sein.«
    »Anders« bin natürlich ich, und ich
kann Ihnen versichern, daß an jenem Tag diese wenigen Worte in mir ein Echo
freigesetzt haben, den Gebeten gleich, die in der Kirche gesungen werden, zu
einem Gott des Lichts und der Schönheit.
    Und doch verletzte mich dieser Satz
auch. Ich war bis dahin so sicher gewesen, daß es mir bestimmt war, mein
Schicksal, mein trauriges Dasein zu beweinen. Und nun, ohne daß ich verstanden
hätte, wie oder warum, hatte dieser Mann den bedrückenden Pessimismus
erschüttert, der mich beherrscht hatte.
    Ich erkannte, daß ich fünf lange Jahre
die Gefangene eines Ungeheuers gewesen war, das es nicht verdient hatte zu
leben. Ich war weiterhin das Opfer meines Vaters gewesen, seine Gefangene.
    Ich wollte den Rat des Weisen befolgen.
Ich versuchte, den Haß zu vertreiben, um mein Herz wieder in Besitz zu nehmen.
    Die Aufgabe erschien mir anfangs
unmöglich. Nicht mehr zu hassen bedeutete zu vergessen, zu vergeben. Und es
bedeutete, den Kampf aufzugeben und somit Feigheit. Und Feigheit konnte ich
nicht mehr tolerieren. Ich mußte jeden Tag in den Spiegel sehen können, ohne
den Blick abwenden zu müssen. Ich mußte mich selbst respektieren, mich selbst
lieben, um so etwas wie ein inneres Gleichgewicht zu bewahren. Um zu leben.
    Jahrelang war ich Königin der Feigheit
gewesen, weil ich Angst gehabt hatte. Es war feige gewesen zu schweigen, diesem
Folterknecht, der meine sämtlichen Gedanken, meinen Körper, mein Leben
vernichtet hatte, nicht ein Messer in die Brust zu rammen. Die Angst im Bauch,
war ich eingesperrt geblieben in einem Gefängnis des Sadismus.
    Aber die Angst ist keine
Entschuldigung, sie lähmt einen, mehr nicht.
    Wie im Märchen hatte der Weise mir den
Schlüssel zu einer Tür gegeben, die ich auf immer verschlossen geglaubt hatte.
Die Tür zu meinem Herzen. Ich habe den Schlüssel genommen und meinen Haß
befreit. Ich habe ihn in meinem Bauch, in meinen Händen und schließlich in
meiner Seele aufgenommen. Und ich habe ihn geliebt, aufrichtig.
    In diesem Moment habe ich tapfer meine
ganze Erinnerung mobilisiert. Ich habe mich ganz darauf konzentriert, um alle
Einzelheiten meines Lebens heraufzubeschwören, von den glücklichsten bis hin zu
den schmutzigsten. Ich habe mich darauf getrimmt, meinen Vater und alle Männer
wie ihn noch tausendmal mehr zu hassen. Ich mußte bis zum Ende gehen. Um
neugeboren zu werden.
    Aber erst mußte ich den Kampf des
Jahrhunderts bestehen. Endlich hatte ich die nötige Motivation. Dieser
verfluchte Haß, der mich so gequält hatte, wurde meine Waffe, um auf meine Art
den Inzest zu bekämpfen. Eine unschlagbare Waffe. Und somit beherrschte ich das
Spiel.
    Es hat viel Kraft und viele Tränen
gekostet.
    Nach und nach akzeptierte ich, daß ich
weder beschmutzt noch Opfer noch Schuldige war.
    Der Haß ist

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