Die Opfer des Inzests
Psychologen?‹
›Nein! Ich will von Psychologen nichts
mehr hören. Ich fühle, daß ich es allein schaffen muß. Ich brauche eine
Schocktherapie, um den Knoten zu lösen.‹ William schwieg lange, dann sagte er:
›Dann geh. Ich hoffe nur, daß wir als
Sieger daraus hervorgehen.‹
Er hatte Tränen in den Augen. Ich
wollte ihn in die Arme nehmen, ihn trösten. Ich wußte, welche Überwindung es
ihn kosten mußte, mir seinen Segen zu geben. Er liebte mich genug, das Risiko
einzugehen, hinterher eine veränderte Sabine vorzufinden, die nichts mehr von
ihm wissen wollte. Ich war überwältigt.
23 Uhr. Ich betrat einen verräucherten
Saal. Die Musik war sehr laut. Ich hatte feuchte Hände und hätte am liebsten
kehrtgemacht. Man starrte mich an. Ich setzte mich an einen Tisch etwas abseits
von der Bar. Um mich herum bildeten sich Frauen- und Männerpaare. Außer mir war
niemand allein.
Plötzlich packte mich das
unwiderstehliche Bedürfnis zu schreiben. Aber das war nicht der richtige Ort
dafür; ich war aus einem anderen Grund gekommen. Doch ich hatte plötzlich das
Gefühl, als beträfe mich dieser ›andere Grund‹ nicht. Kein hübsches Mädchen
hatte mit mir geflirtet, und ich war nicht enttäuscht.
Die Bedienung brachte mir Papier. Ich
versuchte auszudrücken, was ich an diesem Ort empfand. Mein Kugelschreiber flog
förmlich über das Papier; ich war inspiriert. Bald wollte ich nur noch eins:
weg. Das war kein Ort für mich. Ich dachte sehr intensiv an William. Ich war
überzeugt davon, daß wir gewonnen hatten.
Einige Monate später fühlte ich mich
bereit für ein Kind. Es war Anfang 1992. Ende des Jahres sollte unser Wunsch
sich erfüllen. Als wir gemeinsam feststellten, daß der Schwangerschaftstest
positiv war, fing William an zu weinen. Ich für meinen Teil wußte nicht, ob ich
lachen oder weinen sollte.
Ein Gynäkologe bestätigte meinen
Zustand und erklärte mir, wie die folgenden Monate verlaufen würden. Als ich
hinterher in meinen Wagen stieg, dachte ich an meinen Vater und schrie:
›Du kannst mich mal! Ich habe es
geschafft!‹
Dann brach ich in Tränen aus. Ich war
die glücklichste werdende Mutter, die man sich vorstellen konnte. Anstatt nach
Hause zu fahren, fuhr ich zu Williams Büro. Er war draußen, als hätte er
gespürt, daß ich kommen würde. Ich hatte auf der ganzen Fahrt geweint. Als ich
in den Armen meines Mannes lag, murmelte ich immer noch schluchzend:
›Du wirst Vater! Du wirst Vater!‹
David wurde am 23. Juni 1993 im
Entbindungsheim von Bayonne geboren.«
Die Eltern von Sabine sind inzwischen
55 Jahre alt. Sie leben immer noch zusammen in Dax. Ihr Vater hat eine Geliebte,
eine Witwe aus Paris, die ihn regelmäßig besucht. Ihre Mutter weiß über diese
Beziehung Bescheid. Aber sie hat wieder einmal beschlossen wegzusehen.
»Sie tut mir sehr leid«, sagt Sabine,
die sich immer noch überwindet, sie mit dem kleinen David zu besuchen, wenn sie
sicher ist, ihren Vater nicht anzutreffen.
Julien hat geheiratet. Er hat eine
kleine Tochter und lebt in Paris.
Nachdem Sophie von zu Hause weggeholt
wurde und Erzieherinnen ihr geholfen haben, hat sie einen Mann kennengelernt,
von dem sie ein Kind bekommen hat, einen kleinen Jungen. Mit ihm zusammen zieht
sie ihre beiden Kinder groß. Sie leben in der Nähe von Dax. Vor kurzem hat ihr
Mann erfahren, daß Nina ein Inzestkind ist.
Raphael lebt wieder bei seinen Eltern,
was Sabine ebenso belastet wie das Bewußtsein, daß Nina eines Tages mit ihrer
wahren Herkunft konfrontiert werden wird.
»Es wird nicht leicht werden, aber ich
werde meinen Kindern erklären, warum sie ihren Großvater niemals kennenlernen
werden«, versichert mir Sabine. »Daß man mich von zu Hause weggeholt hat, war
meine Rettung. Das riesige Glück, der Hölle entronnen zu sein, verdanke ich der
DDASS, den Erwachsenen, die mir die Hand gereicht haben, und vor allem Sylvia.
Aber mir ist auch bewußt, daß meine Familie noch lange wegen meines Vaters zu
leiden haben wird.«
________Nachwort________
»Es war einmal...« So beginnt jedes
Märchen. Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte, wird, hoffe ich, ein
positiver Schluß dieses deprimierenden Buches über den Inzest sein. Diese
Geschichte ist kein Märchen und auch nicht die Frucht blühender Phantasie. Sie
ist aus einer wahren Begebenheit entstanden und hat sich in meinem Herzen
entwickelt, das ich unwiderruflich tot glaubte.
Es war einmal... ein Mädchen von knapp
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