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Die Opfer des Inzests

Die Opfer des Inzests

Titel: Die Opfer des Inzests Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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Inzests zu vergessen erschien mir wie
ein Verrat an dem Kampf, den ich führen wollte. Es fällt mir immer noch schwer
zu akzeptieren, daß ich meinen Kampf um so effektiver führen kann, je stärker
ich werde. Als müßte ich ewig leiden, um etwas bewirken zu können.
    Glücklicherweise entscheidet mein
Unterbewußtsein manchmal für mich. So wie auch die Ereignisse.
    Und so habe ich Mutter werden können,
womit ich einigen pessimistischen Psychospezialisten widersprochen habe, die
die Ansicht vertreten, daß Inzestopfer sich gemeinhin schwertun, diese Rolle zu
übernehmen, zumindest ohne ihr Kind zu mißhandeln. In diesem Punkt war meine
Begegnung mit Eleonore entscheidend.
    Eine Freundin hatte mir von dieser Frau
erzählt, deren zwei erste Kinder in die Obhut der DDASS 2 gegeben worden waren. Ihr Mann hatte sie
geschlagen, woraufhin sie ihn verlassen hatte. Ohne Arbeit lebte sie in größter
Armut.
    Im Laufe meines Kreuzzuges bin ich hin
und wieder dazu verleitet worden, mich jeder Art von Leid anzunehmen. Wie
sollte man sein Herz dem einen öffnen und nicht dem anderen?
    Ich habe mich um Eleonore gekümmert,
ohne zu begreifen, daß man ihr die Kinder weggenommen hatte — der
Letztgeborene, Jean, war ebenfalls gerade der DDASS übergeben worden — , weil
sie Alkoholikerin im Endstadium war und gar nicht versuchte, aus ihrer Misere
herauszukommen.
    Auf die Bitte dieser in Not geratenen
Mutter hin besuchte ich Jean in seiner Krippe. Er war ein unglaublich hübsches
Baby. Bei unserer ersten Begegnung nuckelte er an seinem Daumen, entspannt und
voller Vertrauen in meinen Armen. Ich gewann ihn bald sehr lieb. Zwei- oder
dreimal die Woche ging ich ihn besuchen. Die restliche Zeit dachte ich nur an
ihn. Einer der Psychologen der Einrichtung hielt mich sogar zunächst für seine
Mutter, was mich sehr aufwühlte.
    Kurze Zeit später beschloß ich, Jean
ein ganzes Wochenende zu mir zu nehmen. Ich hatte mich bei meinem Besuchen so
eifrig gezeigt, daß ich mühelos die Erlaubnis erhielt. Welch ein Fest für mich,
seine Ankunft vorzubereiten!
    Als ich mich am Morgen des großen Tages
in der Krippe einfand, kam es zum Drama. Eleonore hatte jeden Kontakt zwischen
mir und Jean verboten. Offenbar beunruhigt von der Liebe, mit der ich Jean
überschüttete, hatte sie mir einen Dolch ins Herz gestoßen. Nichts konnte sie
umstimmen.
    Ich war krank vor Trauer. Ich machte
mir allerlei Vorwürfe. Ich hatte die Mutter zugunsten des Kindes
vernachlässigt, und das war jetzt die gerechte Strafe! Ich hätte diesem Säugling
gegenüber Distanz wahren müssen. Hätte ich ihn ein bißchen weniger geliebt,
hätte ich ihn weiterhin sehen können.
    Das Ganze war absurd! Ganz plötzlich
ging mir die einzige logische, realistische Lösung auf. Ich konnte selbst
Mutter werden. Ich fühlte mich als Mutter. Ich MUSSTE es werden! Bruno, mein
Gefährte in guten wie in schlechten Tagen, war außer sich vor Freude.
    Kévin wurde vor fast vier Jahren
geboren. Er ist die Freude meines Lebens. Sicher, ich bin keine perfekte
Mutter! Ich bin zu gluckenhaft. Ich zittere unablässig um ihn. Ich überschütte
ihn mit Ratschlägen, die sich alle um ein und dasselbe Thema drehen: »Dein
Körper gehört dir. Du darfst ihn niemandem borgen.« Jede Nachricht in den
Medien stürzt mich in einen Abgrund der Angst. Ein Kind, das vergewaltigt oder
mißhandelt wurde, und ich stelle mir Kévin, meinen Kévin, in den Fängen
irgendwelcher Monstren vor, die sich auf widerlichste Art an ihm vergehen.
    Manchmal lüge ich ihn an, damit er sich
sicher fühlt: »Papa und Mama werden niemals sterben, das ist Gesetz...« Und Kévin
weiß, daß es am Gesetz nichts zu rütteln gibt.
    Natürlich ist das falsch. Aber ich tue,
was ich kann.
    Die Angst um die Menschen, die ich
liebe, und um mich selbst läßt mich niemals los. Ich fürchte mich vor allem.
Vor den Gespenstern der Vergangenheit, vor der Gegenwart, der ich mich stellen,
und vor allem vor der Zukunft, die ich mir aufbauen muß.
    Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem
mein Vater aus dem Gefängnis entlassen wird. In einer Woche, einem Monat, einem
Jahr... Sein Leiden wird dann ein Ende haben, meines jedoch nicht.
    Dafür, daß er mein Leben zerstört hat,
daß er mich fünf Jahre lang gequält hat, ist er zu zwölf Jahren Haft verurteilt
worden. Er hat fast sechs Jahre abgesessen. Aufgrund der perversen Straferlaßbestimmungen
wird er bald wieder frei sein. Freier als ich. Nachdem er seine Schuld bezahlt
hat, werden ihn keine

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