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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Zeiner
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Meer«, hatte sie gesagt, »da fahren alle hin, wir aber fahren in die Berge«, was so viel heißen sollte wie: »Wir sind etwas Besonderes.« In Wahrheit aber war nur sie etwas Besonderes mit ihrer norwegischen Diplomatenherkunft, den dunklen Augen, die sich erst im hellsten Licht als blau erwiesen, und mit ihrer Sprache wie aus dem Deutschbuch, aber seit sie mit ihm verheiratet war, hatte auch er besonders zu sein. Monticchio also. Nach einer Woche flüssiger Sonne, die sich aus einem uferlosen tiefblauen Himmel ergoss, hatte sie dann entschieden, doch noch ans Meer zu fahren.
    Soweit Tom Holler sich erinnerte, hatte er selbst nie in seinem Leben eine nennenswerte Entscheidung getroffen. (»Nie tust du etwas.«) Nicht, als er Ende der sechziger Jahre in einem südhessischen Dorf mit jener Selbstverständlichkeit gezeugt und geboren wurde, mit der man damals Kinder zeugte und gebar und Einbauküchen und pastellfarbene Autos kaufte, nicht, als er in der fünften Klasse begann, sich das Klavierspielen beizubringen, weil das Instrument zufällig in demjenigen Zimmer, dem Dachzimmer, stand, das am weitesten von seinen Eltern entfernt war, ebenso wenig, als er nach dem Abitur ins kohlendunkle Berlin ging, um Jazzpiano zu studieren, ganz und gar nicht zehn Jahre später, als er gegen alle Erwartungen anfing, mit seiner Musik Geld zu verdienen, Geld, das ihm erlaubte, Dinge zu kaufen, von denen sich nun jemand würde überlegen müssen, wie man sie wieder loswurde, und natürlich nicht, als er Hedda heiratete.
    Und das war es im Wesentlichen mit biographischen Eckdaten: Geburt, Klavier, Schule, Ausbildung, Beruf, Heirat, Kinder (noch nicht eingetreten), Tod (noch nicht eingetreten). Alle Begebenheiten, die im Nachhinein hätten als Entscheidungen deklariert werden können, waren im Grunde Zufälle oder Notlösungen gewesen, um nicht zu verzweifeln, um nicht zu sterben, um nicht in Hessen bleiben zu müssen. Die wichtigen Dinge aber, dachte er, sie kommen nicht in Biographien vor, sie hängen zwischen den Zeilen.
    Holler saß an seinem Flügel und starrte ins Glas, dessen Inhalt inzwischen milchig war, nahezu undurchsichtig. Er wollte es in die Hand nehmen und auch wieder nicht. Er hatte plötzlich den Eindruck, noch manches überdenken zu müssen und dass es so schlimm gar nicht sei, hier in der warmen aufgeräumtenWohnung zu sitzen, während vor den Fenstern trübnasses Wetter die kahlen Baumwipfel bewegte, seinen sich verzweigenden, von ihm fortfließenden Gedanken zu folgen in der Langsamkeit des Nachmittags. Mit einem Mal erschien ihm diese Tageszeit, leere, dehnbare Stunden, die von ihm bis vor einigen Wochen möglichst durch Arbeit oder andere Zerstreuung überdeckt worden waren, wenn auch nicht gerade angenehm, so doch als ein tiefer, nahezu wahrhaftiger Zustand.
    Er streckte die Hand aus und drehte das Glas langsam um die eigene Achse, wie man einen Kristall bewegt, um Veränderungen der Lichtreflexionen zu bewirken. Er überlegte, ob er nicht irgendetwas vergessen hatte, ob er nicht doch das Bad …?
    Er stand auf, die Hände in den Taschen, Zigarette im Mundwinkel. Er lief in die Küche, er lief ins Badezimmer, ohne sich entschließen zu können, betrachtete flüchtig sein von weißen Flecken und Spritzern bedecktes Spiegelbild, das zu putzen er aber keine Lust hatte, ging zurück ins Arbeitszimmer und setzte sich wieder vor das Glas hin und begann es vorsichtig zu drehen, so dass ein Streifen Helligkeit darüberglitt, als das Telefon klingelte. Dreimal klingelte es, und er erwartete das vierte Klingeln, dann die Stimme seiner Ehefrau, die er noch immer nicht vom Anrufbeantworter gelöscht hatte, stattdessen aber folgte schrilles Piepsen, das in die Stille schnitt, dann das Rattern und Ächzen des Druckers, der, seit Hedda ihre Kommode mitgenommen hatte, auf dem Fußboden stand. Ohne die Hand vom Glas zu nehmen, beobachtete er, wie das Papier aus dem weißen Plastikgehäuse herausstotterte und direkt neben dem Flügel liegen blieb.
    Faxe waren selten. Er wartete ab, legte seine Hände übereinander in den Schoß, als hätten sie soeben eine Etüde beendet.Das mit schwarzen Tintenstreifen verschmierte Papier erinnerte an einen Zeitungsausschnitt, er beugte sich nach vorn, mit schmalen Augen, und sah, dass es ein Artikel aus der italienischen »Repubblica« war, überschrieben mit: »Il Quartetto mare – Worldjazz in Italia.« Darunter befand sich eine handschriftliche Notiz, die offensichtlich von seinem Agenten

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