Commissario Montalbano 09 - Die dunkle Wahrheit des Mondes
Eins
Der Wecker klingelte, wie jeden Morgen seit einem Jahr, um halb acht. Aber er war schon eine winzige Sekunde vor dem Gerappel wach geworden, das Klicken der Feder, die das Klingeln auslöst, hatte genügt. Daher konnte er vor seinem Sprung aus dem Bett noch einen raschen Blick aus dem Fenster werfen. Das Licht verriet ihm, dass der Tag schön würde, ganz ohne Wolken. Danach blieb gerade ausreichend Zeit, um einen Espresso aufzusetzen, eine Tasse zu trinken, zur Toilette zu gehen, sich zu rasieren und eine Dusche zu nehmen, noch eine Tasse zu trinken und um neun Uhr im Kommissariat zu sein: das Ganze mit der Geschwindigkeit eines Slapstickfilms von Ridolini oder Charlie Chaplin. Bis vor einem Jahr allerdings war die Prozedur des morgendlichen Aufwachens noch nach anderen Regeln abgelaufen, insbesondere ohne die Hetzerei und ohne die Atemnot eines Hundertmeterläufers. Vor allem ohne Wecker.
Montalbano hatte die Gewohnheit, nach dem Schlafen ganz von allein aufzuwachen, ohne irgendwelche äußeren Reize: Es gab zwar so etwas wie einen Wecker, aber der war in ihm, sicher verborgen in seinem Kopf. Er musste ihn nur vor dem Einschlafen richten, »denk dran, morgen musst du um sechs wach werden«, und Punkt sechs machte er seine Augen auf. Einen Wecker, so einen aus Metall, hatte er eigentlich immer als ein Folterinstrument betrachtet: Die drei oder vier Male, die er mit diesem Geräusch eines Bohrers aufgewacht war, weil Livia, die wieder abreisen musste, sich nicht auf seinen inneren Wecker verlassen wollte, hatte er den ganzen Tag über Kopfschmerzen. Daraufhin hatte Livia nach einem Geplänkel einen Plastikwecker gekauft, der anstelle des Klingelns einen elektronischen Ton von sich gab, eine Art biiiip, das überhaupt nicht mehr aufhörte, beinahe wie das Summen einer Fliege, die ins Ohr eingedrungen war und dort gefangen saß. Zum Wahnsinnigwerden. Er hatte das Ding zum Fenster rausgeworfen und damit einen anderen denkwürdigen Krach heraufbeschworen.
Außerdem war er gewolltermaßen immer mit einem Vorsprung von mindestens, allermindestens zehn Minuten von allein aufgewacht.
Und das waren die besten zehn Minuten des Tages, der ihn erwartete. Ach, war das schön, ausgestreckt unter der Bettdecke zu liegen und an unwichtiges Zeug zu denken! Kauf ich mir dieses Buch, von dem alle behaupten, es wäre ein Meisterwerk, oder kauf ich's mir nicht? Geh ich heute in die Trattoria zum Essen oder fahre ich nach Marinella zurück und verputze, was Adelina mir vorbereitet hat? Sag ich's Livia oder sag ich's ihr nicht, dass ich die Schuhe, die sie mir gekauft hat, nicht anziehen kann, weil sie mir zu eng sind? Solche Dinge eben. Die Gedanken schweifen lassen. Damit genau vermied er es, dass ihm etwas durch den Kopf ging, das mit Sex und Frauen zu tun hatte: Das konnte zu dieser Stunde ein gefährliches Erkundungsterrain werden, sofern Livia nicht neben ihm schlief, die sicher sehr zufrieden gewesen wäre, die Konsequenzen auf sich zu nehmen. Eines Morgens vor einem Jahr hatten die Dinge sich dann schlagartig verändert. Kaum hatte er die Augen geöffnet und sich ausgerechnet, dass er sich eine knappe Viertelstunde für seine gedanklichen Abschweifungen gönnen könnte, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, kein vollständiger, sondern eher der Anfang eines Gedankens, ein Gedanke, der mit genau diesen Worten anfing: »Wenn der Tag deines Todes kommt…« Und was suchte dieser Gedanke inmitten all der anderen Gedanken? Es war eine feige Attacke! Es war, als würde sich jemand, während er Liebe macht, plötzlich daran erinnern, dass er die Telefonrechnung noch nicht bezahlt hatte. Es war nicht so, dass der Gedanke an den Tod ihm sonderlich Angst gemacht hätte, doch morgens um halb sieben war er fehl am Platz. Wenn einer anfing, morgens um sieben über seinen Tod nachzudenken, dann war es sicher, dass er sich um fünf Uhr nachmittags entweder erschoss oder sich mit einem Stein am Hals ins Meer stürzte. Es gelang ihm, diesen Satz nicht fortzusetzen, er blockte ihn ab, indem er rasch begann, von eins bis fünftausend zu zählen, mit geschlossenen Augen, mit geballten Fäusten. Dann begriff er, dass es nur einen einzigen Weg gab, die Dinge zu tun, die er tun musste: sich so auf sie zu konzentrieren, als ginge es dabei um Leben und Tod. Am nächsten Morgen war die Sache hinterhältiger. Der erste Gedanke, der ihm kam, war, dass in dem Fischsud, den er abends zuvor gegessen hatte, ein Gewürz fehlte. Aber welches? Und genau in
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