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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Zeiner
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beschrieb.
    »Das ist, was unteren Vorfahren wussten, was war ihr Geheimnis in der Natur und wir haben vergessen. Und sie haben es in das Symbol von der Troll hineingegeben, als ein Wesen, das ist scheinbar von uns außerhalb in die Tiefen vom See. Aber in Wahrheit wussten sie, dass es ist inmitten von uns«, sprach er, und Frau Baldur nickte wieder und wieder und sprach von archetypischen Symbolen, von Märchen und deren psychoanalytischen Deutungen. Jetzt nickte umgekehrt der Finne. Er ist wirklich betrunken, dachte Tom, er ist Finne.
    »Das mit dem Schrott, welchen Sie maken«, fuhr der Finne fort, »ist was ähnlich. Vielleicht ist der Schrott das Unterbewusstseinvon untere Moderne, und Sie holen es hinauf.« Es heißt »unsere« und »unser«, nicht »unter« wollte Tom sagen, unterließ es aber. Lisa Baldur lächelte und entblößte ihre Zähne, einer der Schneidezähne stand wie bei Marc etwas über. »Besuchen Sie uns einmal«, sagte sie zu Tom, und er wusste nicht, wen genau sie mit »uns« meinte, ihren Schrott oder ihren toten Ehemann. Später am Abend, als sie mehrfach mit dem Finnen Brüderschaft getrunken hatten, sagte sie: »Ich bin froh, dass Marc so einen Freund hat, Tom«, und der staunte, denn zum ersten Mal sah er es so herum.
    Zwei Tage später brachte sie die Kritiken. Eine Windböe des Stolzes, auf der sie unterwegs war, ließ ihr langes Leinenkleid erzittern, während sie mit einer Brötchentüte und den Zeitungen unterm Arm im Flur in der Knaackstraße stand. Im Haar trug sie ein breites türkisfarbenes Stirnband, das Marc scherzend als Eso-Kitsch bezeichnete. In der Küche wurde alles auf den Tisch gebreitet. In einer der drei Tageszeitungen fand sich nur eine kurze Notiz über die Preisträger, aber in den beiden anderen waren jeweils ausführliche Artikel über das Konzert im Feuilleton platziert. Tom wurde zum Vorlesen verurteilt, während Lisa neben ihm saß, jedes Wort mitverfolgend, und Marc mit übertriebenem Desinteresse Kaffee aufsetzte. Beide Besprechungen von »Troll« und »Hitting the wall« zeigten sich wohlwollend und überschaubar, aber Marcs Stück waren sowohl in dem einen als auch in dem anderen Blatt etwa doppelt so viele Zeilen gewidmet. Tom hoffte inständig, dass der dritte Satz nicht erwähnt würde, vergeblich. Die Rezensenten waren sich zunächst darin einig, dass Baldurs Komposition von einer expressiven Kraft sei, welche in der »oft allzu akademisch klingenden«Neuen Musik, die, von der Seriellen Musik inspiriert, sich vor allem an ihrer Funktions- und Abbildlosigkeit abarbeite, bisweilen aber zum reinen Formwillen ohne Ausdruckskraft gerate, höchst selten und dabei äußerst mutig zu nennen sei. Dabei sei sie keineswegs reaktionär oder anbiedernd, etwa durch die Wiederaufnahme spätromantischer Harmonik oder Anleihen an die filmmusikalische Tradition, sondern müsse als eigenständig und heutig bezeichnet werden. Auch wurde von einem der Rezensenten der Humor gelobt, der im Singen, Ächzen und Kichern der lebendig gewordenen Haushaltsgeräte aufscheine, eine ironische Leichtigkeit, die sich über die expressive Düsternis des Werks, gleichsam mit einem Augenzwinkern, erhebe. Ganz davon getragen, so sah es der Rezensent, sei der abschließende letzte Satz, der einen italienischen Jazzstandard der fünfziger Jahre (Fred Buscaglione) nicht etwa nur zitiere, sondern ihn in gesamter Länge, vollkommen bruchlos, wiedergebe. Ein Verfahren, das zweifellos in der jüngeren Geschichte der Neuen Musik gängig sei, sich aber für gewöhnlich innerhalb des Genres der sogenannten E-Musik bewege, also eher Mozart-, Mahler- oder Bruckner-Fragmente verarbeite und diese, anders als bei Baldur, als Zitate in gebrochener, bruchstückhafter Form kenntlich mache. Die Idealität des langsamen, harmonisch fast naiven Swingtitels »I found my love in Portofino«, übrigens »sehr gefühlvoll interpretiert von Thomas Holler am Klavier«, sei ein Tabubruch und bringe mit großer Konsequenz eine unleugbare Kraft der Musik zur Sprache: die unmittelbare Überredungskunst des einfachen Tons.
    Tom atmete auf und wurde von Lisa Baldur am Arm berührt, von Marc am Kopfhaar, das daraufhin durcheinanderlag.
    Ganz anderer Meinung aber war hier der zweite Rezensent.Seiner Ansicht nach zerstöre das allzu oberflächlich gedachte, gewollt Naive des letzten Satzes die komplexe Struktur des Werks, ja es komme einer Denunziation des eigenen Schaffens gleich, was allerdings wiederum nicht uninteressant

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