Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
schwiegen aber auch viel und sahendann versonnen, jeder für sich, in eine der Zimmerecken, bliesen Zigarettenrauchkringel in den Raum, die zur rissigen Decke aufstiegen. Oder sie hörten Musik. Ganze Nächte. Es gab einander abwechselnde Phasen, in denen sie eine fast hysterische Begeisterung für einen bestimmten Komponisten teilten und alles hörten, was von ihm zu hören war; Schubert etwa. Sie analysierten die Liederzyklen, die Heine-Vertonungen, die Streichquartette, um dann nächtelang die Köpfe im Takt von Buscaglione-Songs zu wiegen. Direkt im Anschluss gab es eine Palestrina-Phase, in der ihnen diese Musik als das Reinste und Erhabenste erschien, was von einem Menschen je erdacht worden war. Eine Musik, von der Marc behauptete, dass sie immer schon da gewesen sei, Palestrina habe sie nur aufgeschrieben.
Und dann die Tage, an denen gar nichts passierte, Samstage oder Sonntage oder auch ein gewöhnlicher Mittwoch, an denen sie einfach hinausgingen, die hohe Wohnungstür hinter sich schlossen, durch das Treppenhaus voller Pisse-Geruch entlang am Stuck und den abgeblätterten Pastellfarben durch dunkle modrige Kühle hinabliefen, an den verbeulten Briefkästen vorbei, und dann, während Marc eine Melodie pfiff, die schwere, immer nur angelehnte Haustür öffneten und über die Helligkeit staunten, die vor ihnen stand und blendete. Dann geschah es, dass sie einen Weg nach links oder rechts einschlugen und durch die Stadt wanderten wie Fremde. Trotz der ursprünglichen Absicht, nur um den Block zu gehen oder ein Eis zu essen, fanden sie sich Stunden später in Zehlendorf, in Hohenschönhausen oder am Wannsee, übernachteten wiederholt irgendwo in Brandenburg, einmal in Frankfurt (Oder) und einmal in Stettin/Polen, wo sie, ganz ohne Gepäck unterwegs, aufgrundihrer mehr als dürftigen Polnischkenntnisse ernstliche Schwierigkeiten hatten, eine Zahnbürste zu kaufen.
Es gab aber auch Zeiten, in denen sie sich seltener sahen. Weil Tom Proben hatte, weil Marc Proben hatte oder sonstige Termine, weil sie beide unterrichteten, den einen oder anderen Nebenjob ausübten, denn die Musik war ihnen Lebensunterhaltung, nicht aber Lebensunterhalt. In diesen Phasen schrieben sie einander Zettel, es sei zum Beispiel übrigens kein Klopapier da oder man trage sich mit dem Gedanken, am Abend Spaghetti zu kochen, Informationen, die man zunächst auf kleinen, neben Brötchenresten und ungespülten Tassen auf dem Küchentisch herumliegenden Einkaufsquittungen vermerkte, später auf eigens aus Notizblöcken herausgetrennten Blättern. Es entstanden daraus seiten- und tagelange Dialoge: »Warum habe ich, seit wir zusammenwohnen, bloß immer einzelne Socken???? – Tom.« Marc antwortete mit einem längeren Lob der Einsamkeit und fügte an, es ergehe ja ihm nicht anders. Tom erbat auf dem nächsten Zettel einen Übergabetermin für in Geiselhaft gehaltene Socken. »Ich schlage vor, wir treffen uns morgen, halb acht Uhr abends in meinem Zimmer und tauschen die fremden Socken aus. – Tom.«
Marc, der über einen etwas größeren Ordnungssinn verfügte, kaufte irgendwann ein Büchlein, das von da an auf dem Küchentisch lag und in dem man neueste Nachrichten verfassen und lesen konnte. »Der Kaffee ist schon wieder alle. – Tom.«
»Der Kaffee bemisst die Zeit, wir sollten Strichlisten anlegen, dann könnten wir später sagen, das oder das sei zur Zeit unseres zweiundfünfzigsten Kaffeepäckchens gewesen. – Marc.«
»Ich habe gelesen: Es gibt Menschen, die heben sowas auf, die sammeln Kaffeeverpackungen, alle Kaffeeverpackungen, diesie in ihrem Leben je ausgetrunken haben. – Tom, PS: Marietta hat angerufen (gezeichnetes Herz), bitte zurückrufen! (Tom hatte unter das Herz noch eine vor einer Telefonzelle wartende Marietta gezeichnet, denn es erschien ihm skandalös, dass sie, die wie fast alle im Osten, kein Telefon hatte, womöglich nicht einmal zurückgerufen wurde vom privilegierten Telefonbesitzer.)
»Ich wusste gar nicht, dass du so schön zeichnen kannst«, schrieb dieser zurück. Und: »Gibt es auch Menschen, die ihre Freundinnen aufheben?? – Marc.«
»Harem nennt man das. Der Harem ist die absolute Gegenwart. Da gilt keine Zeit, und die abgelegten Freundinnen verschwinden nicht im Schacht der Erinnerung, sondern sie bleiben einfach da, horizontal aufgereiht, eine neben der anderen. – Tom. PS: Und Haremsbetreiber sind unsterblich.«
»Niemand stirbt. Höchstens die anderen. Wir selber existieren nur als Lebende,
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