Die Patchwork-Luege
versprochen haben, brechen ihr Versprechen. Das kann Waffenstillstand bedeuten oder Krieg. Einer zieht aus, verliebt sich neu oder hat sich schon verliebt, während der andere in seiner Einsamkeit versinkt, trauert, hasst – oder vergibt. Oft sind Kinder da, und immer reißt die Trennung der Eltern Gräben auf. Der Graben zwischen Vater und Tochter ist besonders tief. In Prozac Nation (Regie Erik Skjoldbjærg) muss die Protagonistin Elizabeth, eine Harvard-Studentin, die Schriftstellerin werden möchte, den Weg durch die Depression gehen. Der geflohene Vater hinterließ eine Lücke, die Mutter versuchte sie zu schließen und erdrückte ihre Tochter mit ihrer Liebe.
Anders als der Regisseur Erik Skjoldbjærg erzählt Noah Baumbach in seinem Film Der Tintenfisch und der Wal, der 2006 auch nur in wenige deutsche Kinos kam, das Geschehen nicht aus der Perspektive einer Person. Er blickt von oben auf das Trennungs- und Scheidungsdrama der Berkmans. Die Geschichte spielt im New York der achtziger Jahre, die Berkmans haben sich auseinandergelebt, sie ist eine erfolgreiche Autorin, er war einmal ein erfolgreicher Autor. Ihre Ehe hat sich in einen Kriegsschauplatz verwandelt, auf dem keine großen Geschosse aufgefahren werden, dafür lauter kleine, deren Verletzungen nicht minder schmerzen. Nachdem die Liebe in Scherben liegt, soll nundas gemeinsame Sorgerecht regeln, was sich nicht regeln lässt: den Schmerz der Kinder.
Die Eltern sagen, es werde sich nicht viel ändern. Sie würden jetzt eben die eine Hälfte der Woche bei der Mutter, die andere beim Vater verbringen. Aber die Eltern haben gelogen. Es ändert sich alles.
Der ältere Sohn, Walt, sechzehn, buhlt wie besessen um die Gunst seines Vaters. Ein verzweifelter Versuch, sich die Traurigkeit vom Leib zu halten. Frank ist ein paar Jahre jünger, er masturbiert in der Schule und schmiert sein Sperma auf Bücher.
Die Zeit, erwachsen zu werden, war für beide noch nicht gekommen.
Noah Baumbach ist selbst Scheidungskind. Um Der Tintenfisch und der Wal zu drehen, setzte er sich seinen Erinnerungen aus und kehrte zurück an den Ort seiner Kindheit, nach Park Slope, wo er aufwuchs, wo die Ehe seiner Eltern zerbrach. Gut möglich, dass er sich aber auch aus einem ganz anderen Grund für die Achtziger-Jahre-Kulisse entschieden hat: Damals gestand man sich noch ein, dass Scheidungen schmerzhaft sind.
Die Familie ist keine Insel der Glückseligkeit, das behauptet auch niemand. Sie ist es nie gewesen, auch nicht während ihres »Goldenen Zeitalters«, von den Fünfzigern bis Anfang der siebziger Jahre, selbst wenn sich im Kopf die Bilder von adretten Frauen in Hauseinfahrten festgesetzt haben.
Familie ist bisweilen ein perfides System, ein hermetischer Ort des Schweigens und Verschweigens, des Verdrängensund Ausgeliefertseins. Manche Ehen fühlen sich wie ein Gefängnis an, und das Kindsein ist eine Qual. Der Kampf tobt auf allen Ebenen. Was einem in der Familie Übles widerfährt, vergisst man nie, denn ein Verrat innerhalb des Raumes, der eigentlich für Schutz steht, für Geborgenheit, der das Netz sein soll, das einen auffängt, ist besonders abscheulich. In ihren albtraumhaften Auswüchsen hat die Familie unzählige Leben zerstört. Die Literatur ist voller Untergangs- und Desastergeschichten, die im Kreis der vermeintlich Liebsten spielen. Henrik Ibsen, August Strindberg, Leo Tolstoi, Thomas Mann, Franz Kafka, Jonathan Franzen, Elfriede Jelinek, sie alle haben düstere Geschichten erzählt, Neurosen beschrieben, Väter, die ihre Söhne hassen, Söhne, die ihre Väter hassen, verstoßene Kinder, gestörte Mütter, Kindermörder. Sie haben gefallene Autoritäten entlarvt und den Einbruch des Archaischen ins Familiäre geschildert. In Franz Kafkas Brief an den Vater heißt es an einer Stelle über seine Schwester Ottla: »Von Ottla wage ich kaum zu schreiben (…). Was für eine ungeheure Entfremdung, noch größer als zwischen Dir und mir, muss zwischen Dir und ihr eingetreten sein, damit eine so ungeheure Verkennung möglich ist. Sie ist so weit von Dir, dass Du sie kaum mehr siehst, sondern ein Gespenst an die Stelle setzt, wo Du sie vermutest.«
Die Familie kann ein Unglück sein.
2. Selbstoptimierung
Wir leben im Zeitalter der Unabhängigkeit, das verleiht uns ein großes Freiheitsgefühl. Die Moderne brachte viel Gutes: die Selbstbefreiung des Menschen aus seiner Unmündigkeit, das Ende der Pest und der Industriesklaverei. Wir sind kranken- und
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