Die Patchwork-Luege
Lebensgeschichte, geplatzte Träume, gescheiterte Lieben, an sein eigenes Versagen erinnert werden, ist größer als der Mut, den Finger in die Wunde zu legen. Unbeschwerte Patchworkdrehbücher verkaufen sich aber ganz einfach auch deshalb so gut, weil sie ein Familienmodell propagieren, das in Zukunft so selbstverständlich sein wird wie späte Ladenöffnungszeiten.
Das Fernsehen hat keine ausdrücklich erzieherische Funktion. Seine Aufgabe ist es nicht, den Blick auf das eigene Leben zu schärfen oder Wertevorstellungen zu entwickeln. Trotzdem beeinflusst es unser Denken und Handeln stärker, als wir annehmen. Es wäre deshalb umso wichtiger, ein differenziertes Patchworkbild zu zeichnen, anstatt der Quote wegen leichtfertig Werte zu verwässern.
Es gibt einen hübschen Werbeslogan der Firma Telefunken aus den fünfziger Jahren, er lautet: »Das Fernsehen ist das Fenster zur Welt.« Dass diese Aussage tatsächlich einmal ernstgemeint war, kann man sich heute kaum noch vorstellen.
Die Zeiten, als Adorno, Horkheimer und andere die Massenmedienals Instanzen des Massenbetrugs beschrieben, vor denen man sich in Acht nehmen müsse, sind lange vorbei. Ihre Warnungen vor der Manipulation, vor der Entmündigung des Konsumenten klingen leise nach. Sie kritisierten deren Distanzlosigkeit, die Zuschauer ließen sich berauschen und akzeptierten die Medienmanipulation, ohne aufzubegehren. Dadurch werde der Grundstein für den Zwangscharakter einer entfremdeten Gesellschaft gelegt.
Heute sind wir der Ansicht, die Kritische Medientheorie sei hauptsächlich für Menschen von gestern geschrieben worden. Wir sind im pausenlosen Medienkonsum geübt, laden Apps und Musik auf unseren iPod, versenden E-Mails, sehen Filme, telefonieren währenddessen und surfen im Netz. Wir glauben, die Tücken der Medien und ihre Inszenierungsstrategien zu durchschauen. Wir bilden uns ein, keiner Täuschung mehr zu erliegen.
Die Hoffnung, man könne sich in einer von Massenmedien geprägten Gesellschaft der Wirkung von Massenmedien entziehen, ist naiv. Um sich die Macht der Bilder vor Augen zu führen, genügt die Erinnerung daran, dass wir keinem unserer Sinne so sehr vertrauen wie dem Gesichtssinn. Wir glauben, was wir sehen; seit der Antike gilt der Sehsinn als der mächtigste Sinn, er ist jene anthropologische Potenz, die, neben dem Tastsinn, den unmittelbarsten Kontakt zur Welt hält und am innigsten mit ihr verbunden ist. Der Sehsinn ist von allen Sinnen der objektivste, weil die Augen die höchste Erkenntnisfähigkeit besitzen.
Der Sehsinn ist auch der gefährlichste, verführerischste Sinn, er führt uns leicht in die Irre. Wie leicht, kann jeder an sich selbst beobachten. Das Fernsehen ist in erster Linie ein Augenmedium. Sein Trick besteht darin, seine Medialität und Konstruktivität zu verschleiern. Keinem Medium gelingt das besser. Fernsehbilder verfestigen sich zu etwas, was – je nach Bildung und Kritikfähigkeit – jene Wirklichkeit genannt wird, an der man sich im Urteil orientiert. Der Medienwissenschaftler Peter M. Spangenberg bezeichnet Fotos und Bilder als »Fetische der Realität«, »durch die die Authentizität individuellen Erlebens mit der sozialen Wirklichkeitskonstruktion untrennbar verbunden ist«.
Unserem Bewusstsein entgeht die Konstruktivität medial vermittelter Eindrücke natürlich nicht. Doch das Bild fesselt das Auge und spielt ihm einen Streich. Bilder lassen uns kalt oder berühren uns. Manchmal rühren sie uns zu Tränen. Wir lachen, und wir ängstigen uns, sind wütend, verstört, bedrückt, beglückt. Gefühle spielen eine entscheidende Rolle. Sobald sie geweckt sind, fällt es uns schwerer, zwischen Fiktion und Nichtfiktion zu unterscheiden.
Wir haben unseren Fernsehkonsum im Laufe der Jahre stetig erhöht, vor allem mit dem Aufkommen der Privatsender in den achtziger Jahren, nun sehen wir täglich im Schnitt vier Stunden fern, entweder nebenher beim Bügeln oder gebannt vom Sofa aus, daran hat auch das Internet entgegen aller Prognosen nichts geändert. »Unsere Wahrnehmung von Gesellschaft ist wesentlich davon geprägt,wie die Gesellschaft im Fernsehen dargestellt wird«, sagt der Medienwissenschaftler Knut Hickethier. Sein Anteil an unserer Wirklichkeitsvorstellung könne gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Selbst wer keinen Fernsehapparat besitzt, kann nicht von sich behaupten, er sehe nie fern. Er sieht fern, und wenn nicht bewusst, dann unbewusst. Fernsehbilder verfolgen uns in
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