Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
ihr zur Flucht aus dem Elend der Sklaverei verholfen, ihr von der Gabe erzählt und ihr die Welt der Barden eröffnet. Er hatte sie zur Schule von Inneil gebracht, und zum ersten Mal in ihrem bewussten Leben hatte sie einen Ort gefunden, an dem sie sich zu Hause fühlte. Ein plötzlicher, scharfer Schmerz stieg Maerad in die Kehle, als sie an Silvia dachte, die in der kurzen Zeit, in der sie einander kannten, wie eine Mutter für sie geworden war; dann kam ihr Dernhil in den Sinn, der sie geliebt hatte. Trotz dieser Liebe hatte sie ihn zurückgewiesen, und nachdem Dernhil von Untoten - den Schwarzen Barden, Dienern des Namenlosen - getötet worden war, hatte sie sowohl sein Ableben als auch eine vertane Möglichkeit betrauert, die sie ewig bedauern würde.
Maerad wünschte inständig, sie hätte in Inneil bleiben können geliebt, wie du es werden solltest, hatte Dernhil zu ihr gesagt - und dass sie ein geruhsames Leben damit hätte verbringen können, die bardischen Künste des Lesens, Behütens und Erschaffens zu erlernen. Nichts hätte sie lieber getan, als die Schriften von Annar zu studieren und ihren unvorstellbaren Reichtum an Poesie, Geschichte und Gedanken zu erschließen oder sich der Kräuter-, Heil- und Tierkunde zu widmen, die Riten der Jahreszeiten zu beobachten und das Wissen des Lichts zu bewahren, wie es Barden seit Jahrhunderten zuvor getan hatten. Stattdessen befand sie sich auf einem winzigen Boot mitten auf einem dunklen Meer, hunderte Meilen vom freundlichen Hafen entfernt, den Inneil verhieß - auf der Flucht vor der Finsternis in eine noch größere Dunkelheit und eine ungewisse Zukunft.
Es war ungerecht. Seit ihrer Flucht aus Gilmans Feste hatte ihr Leben darin bestanden, etwas zu finden, das sie liebte, und es fast augenblicklich wieder zu verlieren. Verfolgt von der Finsternis waren sie und Cadvan aus Inneil in Richtung Norloch geflohen, dem Mittelpunkt des Lichts in Annar. Während ihrer Reise durch Annar hatte Maerad schließlich die Hohe Sprache erlangt, die angeborene Sprache der Barden, wodurch sich das volle Ausmaß ihrer Macht entfaltet hatte. Ihre Fähigkeiten waren erheblich weitreichender und seltsamer als jene gewöhnlicher Barden; so hatte sie einen Unhold bezwungen, den bösen Geist eines toten Königs aus den Tagen der Großen Stille, was die Zauberkunst selbst der mächtigsten Barden überstieg. Maerad hatte herausgefunden, dass ein Teil ihrer Eigenart von ihrem Elementarblut herrührte, ihrem Elidhu-Erbe, das auf Ardina zurückging, die Königin des goldenen Reiches von Rachida, eines verborgenen Ortes im Herzen des Großen Waldes. Allerdings war sie noch nicht annähernd in der Lage, die Kräfte ihrer Gabe zu beherrschen.
Als sie schließlich in Norloch eingetroffen waren…
Maerad zuckte zusammen, als sie an die brennende Zitadelle dachte, die sie erst vor zwei Tagen hinter sich gelassen hatten. In Norloch hatte sie Nelac kennen gelernt, Cadvans alten Lehrer, einen weisen und freundlichen Mann, der sie zu einer vollwertigen Bardin der Weißen Flamme gemacht hatte. Bei der schlichten Zeremonie hatte sich ihr Bardenname offenbart, der geheime Name, der einen Bestandteil ihres innersten Selbst bildete. Dadurch hatte sich bestätigt, dass sie, so wie Cadvan vermutet hatte, die Verheißene war, dazu ausersehen, den Sturz des Namenlosen bei dessen erneutem Aufstieg herbeizuführen. Elednor-Edil-Amarandh na. Die Sternensprache hallte mit ihrer kalten, unmenschlich wunderschönen Melodie in ihrem Geist wider. Doch trotz all ihrer angeborenen Fähigkeiten war Maerad nur ein junges Mädchen, ungeschult und verwundbar. Ihr war ein Rätsel, wie sie den Namenlosen besiegen sollte, und ihr schien eher wahrscheinlich, dass sie versagen würde. Prophezeiungen, so hatte Cadvan ihr einst erklärt, schlugen häufig fehl; zwar war ihre Geburt vorhergesagt, nicht aber, welche Entscheidungen sie treffen würde, und erst durch ihre Entscheidungen würde ihr Schicksal sich entfalten.
In Norloch hatte sie ihren Bruder zuletzt gesehen. Den Verlust Hems empfand sie als am grausamsten von allem. Mit Hem hatte sie einen fehlenden Teil ihrer selbst gefunden, und durch seinen Verlust hatte der alte Kummer abermals eingesetzt, vervielfacht um neue Ängste. Als sie aus Norloch geflohen waren, hatte es sicherer geschienen, sich zu trennen: Cadvans und Maerads Weg führte nach Norden, während Saliman mit Hem südwärts in seine Heimat Turbansk ritt, wo Hem in das Bardentum eingeführt werden sollte.
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