Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Maerad noch Elednor oder sonst jemand war. Sie spürte, wie ihr Wesen klar und leer wurde und sie den Stillstandspunkt der Verwandlung erreichte, an dem sich alle Möglichkeiten eröffneten. Sei Maerad, sagte sie sich. Sei ich.
Die Verwandlung vollzog sich so mühelos, dass es sie regelrecht erstaunte - ganz so, als wechselte sie ihre Gestalt schon, seit sie ein Säugling gewesen war. Dennoch verspürte sie davor stets einen Augenblick der Beklommenheit, einer Furcht, die durch ihre Adern strömte wie kaltes Wasser. Um jenen Punkt zu erreichen, an dem sie niemand war, musste sie alles vergessen, was sie über sich wusste, und dies fühlte sich beängstigender an, als sie sich eingestehen wollte. Im Zuge der Verwandlung blitzte kurz ein reiner Schmerz auf, als würde sie für den Bruchteil eines Lidschlags in ein Feuer geworfen. Dann war sie keine Wölfin mehr. »Ich glaube nicht, dass ich mich jemals daran gewöhnen kann, dass du das machst«, meinte Cadvan mit sanfter Stimme. »Etwas so Seltsames habe ich noch nie gesehen.«
Maerad schüttelte den Kopf wie früher die dichte Krause ihres Winterfells und streckte die Arme aus. Ihren Gesten haftete noch etwas Wölfisches an. »Das fühlt sich viel besser an«, seufzte sie. »Aber weißt du, Cadvan, ich glaube, du hast recht: Ich wurde schon zu sehr Wolf.«
Cadvan setzte an, etwas zu erwidern, doch in jenem Augenblick eilte Malgorn mit einer Karaffe herbei. Mit offen stehendem Mund hielt er an der Tür inne. »Maerad!«, rief er aus. »Wo kommst du denn her?«
»Sei gegrüßt, Malgorn«, gab Maerad zurück. »Es tut mir leid, dass ich das vorher nicht sagen konnte. Cadvan wollte nicht, dass jemand erfährt, dass ich hier bin.« Malgorn plumpste neben Cadvan auf das Sofa und hielt benommen die Karaffe in der Hand. Cadvan nahm sie ihm behutsam ab. »Lass mich dir etwas zu trinken einschenken, mein Freund«, schlug er Malgorn vor.
Der Barde erwiderte nichts. Er starrte immer noch mit offenem Mund Maerad an. »Cadvan, was für eine schwarze Magie ist das?«, brachte er schließlich hervor. »Was hast du in dieses Haus gebracht?«
Malgorns Züge hatten sich vor Zorn gerötet, und Maerad schaute beunruhigt zu Cadvan. Würden sie doch noch aus Inneil hinausgeworfen werden? Cadvan jedoch wirkte ungerührt. »Malgorn, du kennst Maerad. Maerad von EdilAmarandh, wenn du in diesen Tagen lieber ihren vollständigen Namen möchtest. Ich weiß, es ist erstaunlich, dass sie ihre Gestalt verändern kann, aber das macht sie weder zu einem Werwesen noch zu einer Kreatur der Finsternis.« »Cadvan, wir leben in gefährlichen Zeiten… bist du wahnsinnig? Hast du eine Ahnung, was hier vor sich geht? Und du wagst es, eine Kreatur der Finsternis in mein Haus zu bringen?«
Cadvan beugte sich vor und ergriff Malgorns Hand.
»Mein Freund, falls du mir je vertraut hast, dann vertrau mir hierbei. Mir ist durchaus bewusst, dass dies finstere Zeiten sind. Niemand weiß das besser als ich. Aber ich schwöre dir beim Licht, dass weder Maerad noch ich etwas mit der Finsternis zu schaffen haben. Und ich würde nie die Sicherheit derer gefährden, die ich so sehr liebe wie dich und Silvia, indem ich die Finsternis in ihr Heim einlade.«
Kurz sah Malgorn in Cadvans Augen, dann schaute er zu Maerad. Verletzt und beleidigt hielt sie seinem Blick stand, bis er zusammenzuckte und auf seine Füße hinabstarrte.
»Seit wir uns zuletzt begegnet sind, habe ich seltsame Dinge erlebt«, sagte Maerad. Kalter Zorn schwang in ihrer Stimme mit. »Ich habe dem Tod ins Auge geblickt und jenen einiger Menschen miterlebt, die ich geliebt habe. Ich habe mit Elidhu gesprochen. Ich habe das Baumlied gefunden. Ich habe für unseren Kampf gegen die Finsternis so viel aufs Spiel gesetzt, so vieles erlitten, und nun wird mir vorgeworfen …«
Ihre Stimme brach; sie wandte sich ab und starrte aus dem Fenster. Betretenes Schweigen setzte ein. Cadvan stand auf, holte ein paar Gläser von einem Regal auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, schenkte in eines davon etwas Laradhel ein und reichte es Malgorn. Danach füllte er ein weiteres und gab es Maerad.
»Alter Freund«, sagte Cadvan, als er sich zuletzt selbst ein Glas einschenkte und den üppigen Duft des Inhalts roch, »wenn wir einander nicht vertrauen, sind wir bereits besiegt.«
Malgorn setzte sich aufrecht hin und seufzte. Er hob das Glas in Maerads Richtung an und leerte es in einem Zug.
»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich danach. »Maerad, es tut
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