Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Silvia ging zu einem Tisch am Fenster, auf dem eine Karaffe neben ein paar Gläsern stand, und schenkte für sie beide ein. Sie reichte ein Glas Maerad, hob das ihre prostend an und trank einen ausgiebigen Schluck.
»Es war ein hartes Jahr, Maerad«, sagte sie. »Und auch wir erlitten Verluste. Allerdings bezweifle ich, dass mein Jahr so hart wie das deine war.« »Es war in der Tat hart«, erwiderte Maerad, als sie daran zurückdachte. »Aber jetzt möchte ich lieber hören, was hier geschehen ist.«
Silvia seufzte, blickte auf ihren Wein hinab und schwenkte ihn nachdenklich im Glas. »Wir haben Oron verloren«, sagte sie schließlich.
Maerad sog scharf die Luft ein und rief sich das strenge, eisengraue Haupt, den geraden Rücken und die sanftmütige Befehlsgewalt der Obersten Bardin von Inneil in Erinnerung. »Wie?«
»Während einer Schlacht in der Nähe von Tinagel. Inneil wird diesseits des Berges von Banden von Plünderern heimgesucht, vorwiegend menschlichen, aber auch einigen Werwesen… Sie unternahmen einen Großangriff auf Tinagel und fielen nachts über die Dorfbewohner her. Sie waren nicht gänzlich unvorbereitet, dennoch wurde es ein erbittertes Gefecht. Oron eilte den Verteidigern mit vielen anderen Barden zu Hilfe, und die Angreifer wurden aufgerieben. Aber Oron kehrte nicht zurück.« Silvias Stimme setzte kurz aus, und sie seufzte. »Wir vermissen sie entsetzlich. Malgorn ist jetzt Oberster Barde, was ihm eine schwere Bürde ist. Er sorgt sich allzu sehr. Natürlich gibt es auch allerhand Grund zur Besorgnis.« Sie lächelte schief. »Ich versuche schon die ganze Zeit, an etwas Gutes zu denken, das ich dir berichten kann, aber mir will nichts einfallen.«
Als Maerad Silvia eingehender musterte, entdeckte sie in ihren Zügen Sorgenfalten, die letzten Frühling noch nicht darin geprangt hatten. Verzweifelt überlegte sie, was sie sagen könnte, das sich vielleicht ein wenig tröstlich anhören würde.
»Aber wir sind immer noch hier!«, rief sie schließlich aus.
»Ja, trotz allem. Wenngleich wir noch nicht das Schlimmste erlebt haben, fürchte ich.« Abermals schüttelte Silvia den Kopf wie ein Hund, der sich von Regenwasser zu befreien versucht. »Maerad, ich habe vergessen, wie es ist, sich unbeschwert zu fühlen. Ist das schon das Schlimmste?« Plötzlich lächelte sie und ließ einen Funken des üblichen Schelms in ihr aufblitzen. »Du hast natürlich recht. Wir sind hier, das Feuer knistert behaglich, und dieses Zimmer - tja, dieses Zimmer ist so schön, wie es immer gewesen ist. Und gleich werden wir uns an einem köstlichen Abendessen laben. Das sollte für jeden von uns genügen.«
Wie Silvia versprochen hatte, erwies sich das Abendessen als köstlich: gebratene Wildente, zubereitet mit Mandelöl und Butter, gefüllt mit frischen Kräutern und Nüssen, mit Honig und Rosmarin verfeinerte Karotten und gedünsteter Kohl, in dessen grünen, weißen und purpurnen Falten Butter schmolz. Danach folgte ein üppiger Gitterkuchen aus den letzten Winteräpfeln. Maerad widerstand der Versuchung, ihn zu verschlingen, und genoss jeden Mund voll. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so gut gegessen hatte. Es musste in Norloch gewesen sein.
Durch ein unausgesprochenes Einverständnis unterhielten sich die Barden nur über ferne oder angenehme Dinge, bis sie das Mahl beendet hatten - Erinnerungen an Cadvans und Malgorns Jugend, lustige Geschichten, die Silvia noch aus ihrer Kindheit in einem nahe gelegenen Dorf kannte, oder das Für und Wider von Lieblingsliedern. Mit Gläsern eines von Malgorn gebrannten Aprikosengeistes gleich bernsteinfarbenen Juwelen in den Händen zogen sie sich danach ins Musikzimmer zurück und ließen sich am Feuer auf den gemütlichen roten Sofas nieder.
Malgorn konnte seine düstere Stimmung nicht verbergen, wenngleich er sich nach Kräften bemühte, ein fröhlicher Gastgeber zu sein. Zunächst sprachen sie nicht über Maerads und Cadvans Reisen während des vergangen Jahres. Cadvan, den nach Wissen dürstete, wollte erfahren, was sich in den letzten paar Monaten in Annar zugetragen hatte. Anscheinend gab es weit und breit keine guten Neuigkeiten. Gerüchte erzählten von Soldatentrupps, die angeblich unter dem Befehl Enkirs, des Obersten Barden von Annar, standen, welche durch das Land streiften, Bauern und Händler zwangsverpflichteten und sich wie Banditen gebärdeten.
»Enkir wird immer stärker«, sagte Malgorn. »Immer noch unterstützen ihn zahlreiche
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