Die Pilgergraefin
darf kein Vergessen finden. Ich muss leiden, wie sie gelitten haben.“ Sie hielt sich den schmerzenden Kopf. „Hätte ich nicht …“
Anna stellte den Becher zurück auf die Truhe, tauchte ein Linnentuch in die Schüssel, die ebenfalls dort bereitstand, wrang es aus und betupfte ihrer Herrin die Stirn mit dem kühlenden Nass. „Es geschieht alles nach dem Willen unseres Schöpfers“, wiederholte sie. Liebevoll strich sie Leonor die schweißfeuchten dunklen Strähnen aus dem Gesicht. „So glaubt mir doch, Euch trifft keine Schuld.“
„Oh doch, Anna. Ich habe meinen Gemahl überredet, mich in die Stadt zu begleiten und Konradin mitzunehmen. Und nun sind beide tot. Hinweggerafft von dieser Seuche, dieser Strafe des Himmels. Wären wir auf Eschenbronn geblieben …“ Qual stand in ihren sonst so strahlenden veilchenblauen Augen.
„Aber Ihr konntet ja nicht wissen …“, setzte Anna zu einem Protest an. „Ihr wolltet doch nur Eurer Schwester …“
Indes ließ Leonor sie nicht ausreden. „Oh ja, ich, ich allein bin schuld und muss diese Bürde tragen. Jetzt und immerdar.“
Dumpf klang das Totenglöcklein, als man in der Burgkapelle von Eschenbronn des verstorbenen Grafen und seines kleinen Sohnes bei einer Sterbemesse gedachte.
Ich durfte nicht einmal einen letzten Blick auf sie werfen, Abschied von ihnen nehmen, dachte Leonor tieftraurig. Und der Gedanke, dass es ihren Lieben nicht vergönnt war, in der Gruft ihrer Ahnen zu ruhen, erhöhte ihren Kummer noch. Denn da Herbert, der junge Vertreter des Stadtmedicus Albertus Weilersbronn, welcher am Tag ihres Todes außerhalb Freiburgs weilte, beschieden hatte, die Dahingeschiedenen seien einer neuen, noch unbekannten Seuche zum Opfer gefallen, die wohl der Gewürzhändler Anton Kniebis aus dem Orient eingeschleppt hatte, waren die Leichen in aller Eile in einem Pestgrab verscharrt worden. Ihr geliebter Mann, der kleine Konradin, ihr Schwager und mehrere Honoratioren der Stadt, die Heinrich zu einem Festmahl geladen hatte.
Wie es die Sitte gebot, war Leonor, gestützt von ihrem Schwager Lothar, dem jüngeren Halbbruder ihres Gemahls und neuem Grafen von Eschenbronn, zum Betgestühl der gräflichen Familie geleitet worden. Nun pries der Burgkaplan Ferfried die so jung Dahingeschiedenen und empfahl ihre Seelen dem Allmächtigen. Kurz ging es ihr durch den Sinn, dass der rotgesichtige Gottesmann, dem Lothar die Pfründe verschafft hatte, nachdem dessen Vorgänger vor Kurzem verstorben war, wenig fromm und der Gesichtsausdruck ihres Schwagers eher triumphierend denn traurig wirkte. Schnell verdrängte sie die unchristlichen Gedanken. Hart schnitt ihr das Holz des Betstuhls, auf dem sie kniete, ins Fleisch. Der Schmerz rief sie in die Wirklichkeit zurück, und erneut empfand sie den herben Verlust.
Wie hatte Konrad das Leben geliebt! Die Jagd. Den Umtrunk mit Freunden. Ritterliche Turniere. Die Burg seiner Ahnen, die sich schon so lange im Besitz der Grafen von Eschenbronn befand. Und ihr gemeinsames Kind, das ihn mit so viel Stolz und Freude erfüllt hatte. Seinen Erben.
Leonor biss sich so fest auf die Unterlippe, dass sie den Geschmack von Blut wahrnahm. Wie glücklich hätten sie weiterhin auf Burg Eschenbronn leben können, hätte sie nicht ihren Gemahl bedrängt, mit ihr in die Stadt zu reiten … Dorthin, wo eine tödliche Seuche lauerte … Aber sie hatte doch nicht gewusst …
Eine eiserne Klaue schien ihr Herz zu umklammern. Presste es zusammen. Raubte ihr den Atem. Sie griff sich an die Kehle, dann an die Brust und sackte wie leblos im Kirchenstuhl zusammen.
Ich muss Buße tun!
Immer wieder gingen diese Worte Leonor durch den Sinn, während sie erschöpft auf dem Bett lag, das sie so oft mit ihrem Gemahl geteilt hatte.
Nun, da es ihr ein wenig besser ging, standen ihr die Ereignisse der letzten Zeit wieder klarer vor Augen – und marterten ihre Seele, so es denn möglich war, mit noch größerer Pein.
Vergeblich versuchte sie, die Bilder und Eindrücke zu verbannen, die ständig wieder auftauchten und ihr die schmerzvollen Erlebnisse der letzten Wochen in Erinnerung riefen …
Schweißgebadet nach dem langen, schnellen Ritt war der Bote ihres Schwagers Heinrich damals auf Burg Eschenbronn eingetroffen und hatte Meldung gemacht vom besorgniserregenden Zustand ihrer hochschwangeren jüngeren Schwester, die, von einem Fieber ergriffen, schwer krank darniederlag, ja möglicherweise mit dem Tode rang.
Cathérine – die unzertrennliche
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