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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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DIE INSEL verlagert sich langsam nach Osten. Drei bis vier Meter im Jahr, je nach Stärke der Winterstürme und Sturmfluten. Hier, wo er jetzt stand, war vor vierzig Jahren Wasser nur und Watt.

    Der Wind hatte in den letzten Stunden aufgefrischt. Eine blauschwarze Wolkenbank lag im Westen über dem Horizont. Böen rissen von den Dünen Sandfahnen hoch. Der Schaum der auslaufenden Wellen wurde in breiten grauweißen Streifen über den Strand getrieben. Möwen glitten über die Wellen, und jäh stürzte eine aufs Wasser, im Schnabel ein kurzes silbernes Aufblitzen.

    Am Morgen war er den Strand entlanggegangen, hundert Meter, die er jeden dritten Tag nach Treibgut absuchte. Heute waren es: eine Spraydose, ein Glasröhrchen mit Tabletten, ein blauer Sportschuh, Marke Adidas, eine Dose blauer Jachtlack – er maß die Restmenge des Inhalts, 0,5 l – und ein Becher Schokoladenmousse, ein blauer Müllsack. Er sammelte den Müll in einen Plastiksack, schaffte ihn zur Hütte, von wo er einmal im Monat bei Ebbe mit dem Pferdewagen aufs Festland gebracht wurde.

    In der Hütte trug er die angeschwemmten Gegenstände in ein Protokoll ein, setzte Wasser auf, schnitt Brot, stellte Butter und Marmelade auf den Tisch und goss den Tee auf. Während der Tee zog, beobachtete er durch das Fernglas den Vogelschwarm über Nigehörn, der Nachbarinsel, Watvögel, Austernfischer, ungefähr zwei- bis dreitausend, schätzte er und notierte die Zahl.
    Er hatte sich eben den Tee eingeschenkt, als der Anruf kam. Ihre Stimme erkannte er nicht sogleich. Verzerrt und von elektronischen Impulsen unterbrochen, hörte er sie sagen, sie sei in Hamburg, es wäre doch Zeit, sich einmal wiederzusehen, und dann etwas förmlich, ob er Lust und Zeit für ein Treffen habe.
    Zeit, sagte er, habe ich und Lust sowieso. Aber es wird ein wenig umständlich sein, hierherzukommen.
    Selma hatte ihr erzählt, dass er auf einer Insel lebe, schon seit Monaten. Wie Robinson, aber mit Handy. Sie fand das aufregend, aber auch ein wenig komisch, und sagte, ich bin gespannt.
    Er gab ihr die Telefonnummer des Bauern, der mit seinem Pferdewagen die Besucher bei Ebbe vom Festland bringt. Ich muss mich nach den Gezeiten erkundigen. Und dein Besuch muss bewilligt werden.
    Hört sich nach Gefängnis an.
    Ja. Naturschutz, sagte er, die Insel ist Naturschutzgebiet. So viel Bürokratie garantiert die Einsamkeit.
    Sie lachte und sagte, das ist gut, ich bin jetzt in Hamburg bei einer Freundin. In zwei Tagen bin ich bei dir, wenn du denn die Genehmigung bekommst.

    Vor sechs Jahren hatte er ihre Stimme zuletzt gehört: Bitte. Ruf mich nicht mehr an. Ich will und ich kann nicht mehr. Verstehst du. Endgültig . Das war ihre Botschaft auf seinem Anrufbeantworter gewesen.
    Er hatte sich diese Sätze mit dem abschließenden Endgültig vorgespielt. Und ihm war bewusst geworden, dass es keine Hoffnung gab, sie in ihrem Entschluss noch mal umzustimmen. Es war ihr Tonfall, vor allem aber, dass sie auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte. Er hatte sich ihre Nachricht einige Male angehört und sie dann gelöscht.

    Er rief die Behörde an, sagte, eine Freundin, eine sehr enge, wie er betonte, komme ihn für zwei Tage besuchen. Stattgegeben, sagte der Behördenleiter und fragte, ob sonst alles in Ordnung sei.
    Besucher auf der Insel sind nur in den Sommermonaten erlaubt, als Gruppe, hin und wieder, und nur für eine Stunde, wenn sie sich vorher angemeldet haben. Jetzt im Herbst kam, von Bauer Jessen abgesehen, der einmal in der Woche Post und Proviant brachte, niemand mehr.
    Er setzte sich an den sorgfältig gedeckten Tisch, Besteck und Serviette lagen neben dem Teller. Es waren die kleinen Rituale, die in der Einsamkeit Halt gaben. Vor Jahren hatte er auf dem Athos im Bergkloster Dionysiou einen Eremiten getroffen, der sich von den Mönchen Gemüse und Obst holte. Er hatte den frommen Mann nach seinem Tagesablauf befragt, und der hatte bereitwillig erzählt, was ein aus Deutschland stammender Novize übersetzte: vom Aufstehen mit der Sonne, dem Beten, wenn er die Stundentrommel aus dem fernen Kloster hörte, vom Fegen der Höhle mit einem Reisigbesen, vom Essen des Brots, des Käses, der Oliven, dem Trinken des Wassers und vom abermaligen Beten. Es war der Zeitplan eines Beamten, man konnte es so sehen: ein Mann, der das Heilige hienieden verwaltete.
    Und so hielt auch er seinen Tagesablauf, der zudem noch von seinen Pflichten als Vogelwart bestimmt war, strikt ein, die Ordnung in dem Raum,

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