Die Porzellanmalerin
Eisengriff und öffnete den rechten Fensterflügel. Luft, sie brauchte Luft! Ihr lieber Bruder schaffte es immer wieder, ihr einen Dämpfer zu versetzen und den ganzen Elan zu nehmen. Noch dazu hatte er gestunken wie ein Wiedehopf. Aber egal, was er von ihr wollte und wie eilig die kleinen Chinesen fertig werden mussten: Sie würde heute nicht mehr weiterarbeiten! Keinen einzigen Pinselstrich würde sie mehr machen. Es war an der Zeit, sich umzukleiden. Nicht, dass sie sich sonderlich auf den Abend im Salon der Mutter freute, aber immerhin versprach er etwas Abwechslung. Und vielleicht würde ja auch Caspar Ebersberg kommen …
C onstanze Simons war gesellschaftlich sehr ambitioniert. Sie stammte aus einer Familie, die viel Geld mit den Silberminen im Erzgebirge verdient hatte. Sie hätte einen ebenso vermögenden
böhmischen Glasfabrikanten heiraten sollen, hatte sich aber unsterblich in Friederikes Vater verliebt und war zum Entsetzen ihrer Eltern eine Mesalliance eingegangen. Soweit Friederike wusste, hatte sie ihre Entscheidung nie bereut, zumal ihr Vater als Buchhändler und Verleger über eine umfassende Allgemeinbildung verfügte, die er sich selbst angeeignet hatte. In seiner Anwesenheit hatte sich ihre Mutter bestimmt noch nie gelangweilt. Zudem sah er ausnehmend gut aus, wie Friederike fand. Sie wusste, dass Töchter gemeinhin dazu neigten, den Vater zu verherrlichen und jeden zukünftigen Bewerber an ihm zu messen. Aber in ihrem Fall entsprach ihr töchterliches Urteil einer objektiven Wahrheit, das stand fest. Friederike musste über sich selbst lachen: Wer auch immer eines Tages kommen und um ihre Hand anhalten würde - ihr Vater hatte die Messlatte ziemlich hoch gelegt.
Doch eines hatte Konrad Simons trotz all seiner herausragenden Qualitäten nicht vermocht: seiner Frau das Gefühl zu nehmen, in gesellschaftlicher Hinsicht in Meißen etwas zu verpassen. Meißen war nicht Dresden und schon gar nicht Paris, das war auch ihrer Mutter klar. Dennoch wusste Friederike, dass ihr seelisches Gleichgewicht aus diesem Grund mitunter gefährlichen Schwankungen ausgesetzt war. Constanze Simons tat ihr Bestes, sich nichts anmerken zu lassen und jedes aufkeimende Gefühl von Missmut schleunigst wieder zu unterdrücken. Irgendwann war sie glücklicherweise auf die Idee gekommen, aus der Not eine Tugend zu machen. Sie hatte einen Salon eröffnet und sich von da an die große weite Welt einfach nach Meißen geholt. Mit Erfolg, was sowohl ihr Mann als auch die Kinder zu schätzen wussten, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Für Friederike war die Mutter in ihrer unermüdlichen und selbstbewussten Art ein großes Vorbild, während Georg vor allem die Annehmlichkeiten genoss, die ihr gesellschaftliches Engagement für ihre Familie mit sich brachte. Und ihr Vater, dachte Friederike mit einem nachsichtigen Lächeln, liebte sie einmal mehr, wenn sie so eifrig war. Er hätte sicher nie eine
Frau um sich ertragen, die den ganzen Tag die Hände in den Schoß legte.
Apropos »Hände in den Schoß legen«: Es war bestimmt schon furchtbar spät, und sie vertrödelte hier ihre Zeit! Gewaltsam riss sie sich aus ihren Gedanken und eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter in ihr Schlafzimmer. Hektisch klingelte sie nach der Magd.
»Lilli, bring mir für heute Abend das blaue Kleid mit den Rosen, ja?«
Friederike wusste, dass das blaue Kleid auf äußerst vorteilhafte Weise die Farbe ihrer Augen unterstrich. Nur in diesem Kleid leuchteten sie wirklich blau. Sonst wirkten ihre Augen nämlich fast grau.
»Natürlich, gnädiges Fräulein«, knickste Lilli.
Die Magd war mollig, niedlich und insgesamt ziemlich ungeschickt. Ihre Mutter beklagte sich ständig über sie. Doch Friederike mochte das einfache Mädchen. Sie war wenigstens keine Heuchlerin und ihr aufrichtig ergeben.
Vorsichtig stieg sie aus ihrem Arbeitskleid und nahm, nur mit Leibchen und Unterrock bekleidet, an ihrem Toilettentisch Platz. Aufmerksam betrachtete sie ihr Spiegelbild. Ganz passabel, dachte sie zufrieden. Um nicht zu sagen: sehr passabel. Vielleicht ja sogar schön … Sie lächelte.
Sie konnte sich noch bestens an die Zeiten erinnern, als sie bei gesellschaftlichen Ereignissen ständig den Eindruck gehabt hatte, durchsichtig zu sein, weil nie jemand sie zu bemerken schien. Aber seit einigen Monaten war das anders geworden: Auf einmal starrten alle sie an. Sie war sich noch immer nicht ganz sicher, ob sie das, was sie in
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