Die Priesterin von Avalon
weigerte sich, ihr den Preis dafür zu zahlen. Daraufhin verbrannte sie drei Bücher, dann noch einmal drei, und schließlich kaufte der König die letzten drei zu dem Preis, den sie ursprünglich für alle gefordert hatte. Danach wurden die Sprüche anderer Sibyllen aus allen Städten Italiens und Griechenlands, besonders jener aus Eretria, gesammelt, und die Führer von Rom haben sich bis zum heutigen Tage danach gerichtet.«
»Demnach gibt es keine Seherin mehr am Schrein von Cumae?«
»Nein, Herrin«, erwiderte der Sklave. »Nur die Priesterin, die den Apollontempel pflegt. Aber die Grotte, in der die Seherin ihre Orakel sprach, gibt es noch.«
»Ich würde sie mir gern ansehen«, sagte ich, »wenn die Träger fertig sind mit dem Essen.« Cunoarda, das kleine albanische Mädchen, das meine Magd geworden war, nachdem ich Hrodlind freigelassen hatte, ging ans Ufer, wo die Sklaven aßen, und kam mit den acht starken Germanen zurück, die Konstantin mir geschenkt hatte. Ihr rotes Haar erinnerte mich an Dierna, die kleine Kusine, die ich vor so langer Zeit in mein Herz geschlossen hatte.
»Es dürfte ungefährlich sein«, sagte Lactantius mit ernster Miene. »Es geht kein Wind, und der Dämon Apollon wird ruhig sein. Vielleicht wird der Geist der Seherin, welche die Einheit Gottes verkündete, zu dir sprechen. Ich bleibe hier und passe auf die Jungen auf.«
Ich verzichtete darauf, verwundert eine Augenbraue zu heben. Nach so vielen Jahren war der Halbmond von Avalon auf meiner Stirn nahezu verblasst, und ich hatte nicht das Bedürfnis, dem alten Mann zu erklären, warum ich die Stimme des Dämons von Cumae nicht fürchtete, ob es nun die eines Geistes oder eines Gottes war. Lactantius hatte mich nie nach meinem Glauben gefragt, doch er wusste, dass ich keine Anhängerin seiner Kirche war, und Crispus hatte mir gestanden, dass sein Lehrer sich um mein Seelenheil sorgte.
Ich habe nie etwas gegen Gebete gehabt, solange sie mir Gutes wünschten, ganz gleich welchem Gott sie galten und wer sie vorbrachte, und Lactantius war eine freundliche Seele, noch dazu eine gebildete. Wenn mein Enkel schon von einem Christen unterrichtet werden musste, dann konnte er von Glück sagen, den alten Mann als Lehrer zu haben.
Nach einer Stunde gelangten wir an ein unbewachsenes Kliff aus goldenem Sandstein, in das ein schattiger Tunnel führte, der Eingang zur Grotte von Cumae.
»Sag ihnen nicht, wer ich bin«, riet ich Cunoarda, als sie mir aus der Sänfte half. »Sag dem Türhüter, ich sei Julia, eine Witwe aus Gallien, und wolle etwas spenden, wenn sie mir die Grotte der Seherin zeigten.«
Ich setzte mich auf die Bank unter einer Eiche, froh, eine Höhe erreicht zu haben, in der wir eine Brise vom Meer mitbekamen. Das Sonnenlicht spielte auf dem rotbraunen Zopf der jungen Frau, die auf das Tor zuging. Als sie zurückkam, lächelte sie.
»Sie haben nach der Apollonpriesterin persönlich geschickt, die dich führen soll. Ich glaube, es kommen nicht mehr so viele Besucher zum Schrein.«
Kurz darauf tauchte eine Frau mittleren Alters in einer weißen Tunika aus dem Tunnel auf. Als sie näher kam, sah ich, dass ihr Gewand fadenscheinig wurde, doch es war makellos sauber.
»Ehrwürdige, ich möchte dem Gott dieses goldene Armband im Namen meines Gemahls opfern, der IHN verehrte, aber mein eigentliches Interesse gilt der Grotte der Seherin. Kannst du mich dorthin führen?« Ich hatte keinen Geldbeutel bei mir, doch mein schweres, breites Armband war so wertvoll, dass es die Frau eine Zeit lang ernähren dürfte.
»Gewiss, Herrin. Komm mit.« Die Priesterin wandte sich um und trat in den kühlen Schatten des Tunnels. Ich folgte ihr, Cunoarda auf den Fersen. Als wir ins Helle kamen, schlug sie ihren dünnen Schleier zurück, und ich tat es ihr gleich.
Vor mir lag ein mit ausgewaschenem Sandstein gepflasterter Hof. Auf einer Säulenplatte stand eine Statue der Seherin mit erhobenen Armen und wehendem Haar.
»Als Aeneas hierher kam, rief er das Orakel an. Die Seherin stand dort vor den Toren, wo die Macht des Gottes plötzlich über sie kam«, sagte die Priesterin. Sie zeigte auf eine eigenartig geformte Tür, die in den Berg führte, ein verlängertes Dreieck, dem jemand die Spitze abgebrochen hatte.
»Sie wirkte größer«, fuhr die Priesterin fort, »und ihre Stimme dröhnte. Es liegt in der Natur des Menschen, sich zu widersetzen, wenn eine solche Macht Besitz ergreifen will - es heißt, die Seherin sei wie ein ängstliches
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