Die Priesterin von Avalon
poliert. Der Rand war mit einem Muster ziseliert.
»Es heißt, diese Schale sei in Vernemeton zum Hellsehen verwendet worden, in dem Haus im Wald, aus dem die ersten Priesterinnen kamen, um auf unserer heiligen Insel zu wohnen. Vielleicht hat die Muttergöttin Caillech selbst hineingeschaut. Betet zur Göttin, dass ihr Geist euch nun berühre…« Sie stellte die Schale neben den Krug auf dem kleinen Tisch.
Ich blinzelte, denn ein anderes Bild überlagerte die Schale plötzlich; es war dasselbe Gefäß, nur hell und neu. War es Einbildung oder Erkenntnis?
Ich hatte indes nicht viel Zeit, mich zu wundern, stand doch die Hohepriesterin vor uns und hüllte sich sogleich in den Glanz ihrer Stellung. Die kleine, gebeugte, immer finster dreinschauende Frau wurde mit einem Mal groß, stattlich und schön. Ich hatte diese Verwandlung inzwischen schon oft erlebt, doch sie erstaunte mich immer wieder und rief mir ins Gedächtnis, dass ich die Macht dieser Frau nicht unterschätzen dürfte, ganz gleich, wie sie mich behandelte.
»Glaubt nicht«, sagte die Hohepriesterin, »dass das, was ihr im Begriff seid zu tun, nur deshalb weniger wirklich ist, weil ihr noch zu Priesterinnen ausgebildet werdet. Das Antlitz des Schicksals ist immer herrlich und erschreckend zugleich - nehmt euch in Acht, wenn ihr IHREN Schleier lüftet. Nur wenigen wird eine gewisse Kenntnis dessen zuteil, was kommen wird. Die meisten, selbst eine heilige Seherin, sehen nur in Bruchstücken voraus, die wiederum von der Auffassung derer, die sehen, und derer, welche die Prophezeiung hören, verzerrt sind.« Sie hielt inne und schaute uns der Reihe nach mit einem Blick an, der sich bis in die Seele bohrte.
Als sie wieder sprach, hatte ihre Stimme einen tranceähnlichen Klang. »Seid daher still und reinigt eure Herzen. Löst euch vom geschäftigen Verstand. Verwandelt euch in ein leeres Gefäß, das darauf wartet, gefüllt zu werden, in eine offene Pforte, durch die Erleuchtung strömen kann.«
Rauch wirbelte aus dem Kohlebecken empor, als Suona die heiligen Kräuter über die Kohlen streute. Ich schloss die Augen, denn die bewusste Wahrnehmung der Außenwelt entglitt mir bereits.
»Heron, Tochter der Ouzel«, sagte die Priesterin, »willst du in die heiligen Wasser schauen und dort Weisheit suchen?«
»Ja, ich will«, kam die Antwort. Kleider raschelten, als man ihr auf den Hocker half.
Ich brauchte meine Augen nicht, um zu sehen, wann sie hineinschaute, noch musste ich die leisen Anweisungen hören, mit denen die Herrin sie tiefer in den Trancezustand zog. Als Heron sprach, sah auch ich die Bilder, gebrochen und chaotisch - Stürme und Armeen, Tänzer am heiligen Ring der Steine.
Alsbald waren sie verschwunden. Vage wurde mir bewusst, dass man Heron wieder an ihren Platz geführt hatte und Aelia jetzt an der Reihe war, in die Schale zu schauen. Auch ihre Erscheinungen wurden mir zuteil. Die Stimme der Herrin war strenger geworden und lenkte Aelias Blick auf eine Zeit, die näher an der Gegenwart lag, auf Ereignisse, die für Avalon wichtig waren. Eine Zeit lang sah ich nur wirbelnde Schatten, doch dann tauchten verschwommen die Marschen am Rande des Sees vor mir auf. Gestalten mit Fackeln liefen am Ufer entlang und riefen. Dann verschwand das Bild. Es platschte, als die Schüssel geleert wurde, und Aelia setzte sich wieder neben mich. Ich spürte, wie sie zitterte, und fragte mich, welchen Anblick ihr Verstand nicht zugelassen hatte.
Doch jetzt stand die Hohepriesterin wie eine Flamme vor mir. »Eilan, Tochter der Rian, bist du bereit, in die Zukunft zu sehen?«, kam die Stimme aus dem Dunkeln.
Ich flüsterte meine Zustimmung und wurde zum Hocker geführt. Abermals verschob sich mein Bewusstsein, und ich schlug die Augen auf. Suona schüttete frisches Wasser in die Schale und stellte sie vor mich hin.
»Beuge dich vor und sieh hinein«, erklang die ruhige Stimme neben mir. »Atme ein… und aus… warte, bis die Wasseroberfläche glatt ist. Versetze dich im Geist darunter und sag uns, was du siehst.«
Suona hatte noch mehr Kräuter auf die Kohlen gestreut. Als ich den schweren, süßen Rauch einatmete, ergriff mich ein Schwindel. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, mich auf die Schale zu konzentrieren. Jetzt sah ich sie - ein silberner Rand, der eine schwebende Dunkelheit umschloss, blitzte im leuchtenden Fackelschein auf.
»Es macht nichts, wenn du nichts siehst«, fuhr die Priesterin fort. »Entspanne dich…«
Und ob es etwas
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