Die Priesterin von Avalon
gelegen, als ich schließlich die Suchenden zurückkehren hörte, Stimmen, klanglos vor Kummer oder heiser vom Weinen. Ich drehte mich mit dem Gesicht zur Wand. Der Gedanke, dass Dierna ohne meine Eingebung vielleicht mit ihrer Schwester gestorben wäre, tröstete mich nicht. Ich hatte Ganeda verzweifelt zu beweisen versucht, dass meine Prophezeiung echt war, doch jetzt hätte ich alles darum gegeben, wenn ihre Anschuldigungen sich als richtig erwiesen hätten und die kleine Becca wieder sicher zu Hause gewesen wäre.
Mein Gesundheitszustand besserte sich allmählich, und man erlaubte mir, ins Haus der Jungfrauen zurückzukehren. Heron berichtete, Dierna sei auf Kräutersuche in der Marsch gewesen und habe ihre Schwester zu Hause gelassen. Doch Becca, die seit dem Tode der Mutter ihrer Schwester wie ein Schatten folgte, war ihr nachgegangen und ins Wasser gefallen, und als Dierna zu der Stelle kam, hatte der Sumpf sie bereits in die Tiefe gezogen. Auch wenn niemand ihr einen Vorwurf machte, mussten Dierna inzwischen unweigerlich Schuldgefühle quälen.
Es überraschte mich nicht zu hören, dass die Erkältung, die sie vom kalten Wasser davongetragen hatte, sich zu einer Lungenentzündung ausgewachsen hatte. Jetzt war sie diejenige, die im Haus der Kranken gepflegt wurde. Ich bat, sie besuchen zu dürfen, doch Ganeda verbot es mir. Mir fiel eine Geschichte ein, die mein Lehrer Korinthius mir einmal über einen orientalischen König erzählt hatte, der auf eine schlechte Nachricht mit der Hinrichtung des Überbringers reagierte. Es hatte keinen Sinn, mir die Schuld für den Vorfall zu geben, zumal Ganeda meiner Prophezeiung keinen Glauben geschenkt hatte, doch mir war längst klar geworden, dass die Hohepriesterin selten überlegt handelte, sobald ich betroffen war.
Unsere Ausbildung lief weiter, doch wir erhielten keinen Unterricht mehr im Hellsehen. Ich für meinen Teil war es zufrieden. Ich hatte das erste Paradoxon des Prophezeiens gelernt, nämlich die Erkenntnis, dass man die Zukunft, die man erblickt, nicht unbedingt verstehen, geschweige denn ändern kann.
Mit der Zeit verließ auch Dierna das Krankenlager. Sie schlurfte umher, und ihre Augen wirkten wie Löcher in einer Decke, ihr Gesicht hob sich von ihrem feurigen Haar bleich wie Molke ab. Es war gerade so, als wäre sie mit Becca gestorben und als wäre nur ihr Geist bei uns in Avalon geblieben.
Und so neigte sich dieser furchtbare Sommer schließlich dem Ende entgegen. Die Rohrkolben in den Marschen waren dick und braun geworden und schwankten im Wind, der durch die flatternden Weidenblätter strich, und die Nebel, die Avalon umgaben, schienen golddurchtränkt. Eines Abends, als der Neumond gerade aufging, kam ich vom Abtritt und erhaschte mit einem Seitenblick eine bleiche Gestalt, die den Pfad zum See hinunterging. Es war Dierna. Ich erschrak, und mein Puls ging schneller, doch ich unterdrückte den Schrei, der in mir aufstieg, und pfiff stattdessen nach Eldri, der ihr nachgehen sollte.
Als ich sie einholte, saß Dierna unter einem Holunderbusch, hatte die Arme um Eldri gelegt und weinte in sein seidiges Fell. Als sie meine Schritte vernahm, schaute sie auf und runzelte die Stirn.
»Es ist schon alles in Ordnung. Du hättest Eldri nicht hinter mir her schicken müssen!« versetzte sie mürrisch, doch sie ließ den Hund nicht los. »Aber vielleicht denkst du ja, ich sollte in den See steigen und immer weiter gehen, als Strafe dafür, dass ich meine Schwester habe ertrinken lassen!«
Ich schluckte. Das war schlimmer, als ich erwartet hatte. Ich setzte mich und hütete mich, das Mädchen in diesem Augenblick anzurühren.
»Alle sagen, es sei nicht meine Schuld gewesen, aber ich weiß, was sie denken…«, schniefte sie und wischte sich die Nase am Ärmel ab.
»Du sollst wissen, dass ich in der Wasserschale vorhergesehen habe, was geschehen ist«, sagte ich schließlich. »Aber niemand hat mir geglaubt. Mir will der Gedanke nicht aus dem Kopf, wenn ich doch nur stärker versucht hätte, sie zu überzeugen…«
»Das ist doch dumm! Du konntest nicht wissen, wann…«, rief Dierna, hielt dann inne und beäugte mich misstrauisch.
»Wir fühlen uns beide schuldig«, sagte ich daraufhin. »Sehr wahrscheinlich wird das immer so sein. Aber ich will versuchen, damit zu leben, wenn du es auch versuchst. Vielleicht können wir einander verzeihen, auch wenn wir uns selbst nicht vergeben können…«
Sie sah mich noch eine Weile an, und ihre blauen Augen
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