Psychopath
1
23. Januar 2004
Route 90 East, 37 Meilen außerhalb von Rome,
New York
Mahlers Zehnte Symphonie drang aus der Stereoanlage des BMW X5, doch selbst die friedvolle Musik konnte Jonah nicht beruhigen. Seine Haut glühte heiß vor Zorn. Seine Handflächen am Lenkrad brannten. Sein Herz hämmerte, presste mit jedem Schlag mehr und mehr Blut in seinen Körper, jagte es durch die Halsschlagader und ließ seinen Schädel pochen, irgendwo innerhalb der Schläfenlappen seines Gehirns. Zuletzt war seine Atemfrequenz auf achtzehn Züge pro Minute gestiegen. Er konnte fühlen, wie die Schwindel erregende Gier nach Sauerstoff ihn tief in sich selbst hineinzog.
Sein Drang zu töten fing immer auf diese Weise an, und er glaubte jedes Mal, ihn zügeln zu können, ihn auf einem langen Highway in die Knie zwingen zu können, ganz so, wie sein Großvater auf der Ranch in der Prärie von Arizona, wo Jonah seine Teenagerjahre verbracht hatte, ungebändigte Fohlen zugeritten hatte. Seine Psychopathologie war so gerissen, dass sie ihn überlistete und ihn denken ließ, er sei mächtiger, als er es tatsächlich war, und das Gute in ihm könne das Böse überwältigen. Er glaubte das selbst jetzt noch, da siebzehn Leichen entlang des Highways hinter ihm verstreut lagen.
»Fahr immer weiter«, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Seine Sicht verschwamm, teils vom steigenden Blutdruck , teils vom Hyperventilieren, teils von dem Milligramm Haldol, das er eine Stunde zuvor geschluckt hatte. Manchmal schläferte das Antipsychotikum die Bestie ein. Manchmal nicht.
Er spähte angestrengt hinaus in die Nacht und sah in der Ferne den roten Schimmer von Rücklichtern. Er gab Vollgas, begierig darauf, die Distanz zwischen sich und diesem Reisegefährten zu verringern, so als ob die Schwungkraft des anderen – eines normalen, anständigen Mannes – ihn durch die Dunkelheit lotsen könne.
Er schaute auf die orangefarbenen Neonziffern der Uhr am Armaturenbrett, sah, dass es drei Uhr zwei in der Früh war, und erinnerte sich an eine Zeile von Fitzgerald:
In der wahren, dunklen Nacht der Seele
ist es immer drei Uhr morgens.
Die Zeile stammte aus einer Kurzgeschichte namens »Der Knacks«, ein Titel, der bestens zu dem passte, was mit ihm geschah – seine psychologischen Schutzwälle waren angeknackst, feine Risse taten sich auf, verbreiterten sich zu größeren Klüften, die dann zusammenwuchsen und zu einem gähnenden schwarzen Loch wurden, das ihn verschluckte und als Ungeheuer wieder gebar.
Jonah hatte alles gelesen, was F. Scott Fitzgerald geschrieben hatte, weil die Worte wunderschön waren und die Orte wunderschön waren und die Leute wunderschön waren trotz ihrer Fehler. Und er sah sich selbst gern genauso, wollte glauben, dass er die fehlerhafte Schöpfung eines unfehlbaren Gottes war, dass er es wert war, erlöst zu werden.
Mit seinen neununddreißig Jahren war er körperlich makellos. Sein Gesicht verriet sowohl Vertrauenswürdigkeit als auch Selbstvertrauen – hohe Wangenknochen, eine ausgeprägte Stirn, ein markantes Kinn mit einem kleinen Grübchen. Seine Augen waren klar und blassblau und passten perfekt zu seinem gewellten, silbergrauen Haar, das knapp bis zu seinen Schultern reichte und dekorativ zerzaust war. Er war knapp über eins achtzig groß und von kräftiger Statur, mit langen, muskulösen Armen und einem breiten Oberkörper, der sich elegant zu einer schmalen Taille verjüngte. Er besaß die steinharten Schenkel und Waden eines Bergsteigers.
Doch von all seinen Attributen bemerkten Frauen immer zuerst seine Hände. Die Haut spannte sich sonnengebräunt und weich über die Sehnen, die sich in einem perfekten Fächer von seinen Fingerknöcheln zu seinen Handgelenken zogen. Die Adern waren gerade sichtbar genug, um von körperlicher Kraft zu zeugen, ohne so sichtbar zu sein, dass sich destruktive Züge dahinter erahnen ließen. Seine Finger waren lang und anmutig und endeten in gepflegten, zartrosa Nägeln, die er jeden Morgen auf Hochglanz polierte. Pianistenhände, nannten sie einige Frauen. Chirurgenhände, hatten andere spontan gesagt.
»Du hast die Hände eines Engels«, hatte sich eine seiner Geliebten begeistert und seinen Finger in den Mund genommen.
Die Hände eines Engels. Jonah betrachtete sie, während sie das Lenkrad so fest umklammerten, dass die Knöchel weiß vortraten. Er war inzwischen bis auf fünfzig Meter an das Auto vor ihm heran, doch er spürte, dass er in seinem
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