Die Prophezeiung der Seraphim
dunkel, sowohl Haare wie Augen? Er stand auf und ging zu einem Spiegel, der über einem Konsoltisch hing. Julie schien seine Gedanken erraten zu haben und trat neben ihn. Das Licht war schlecht, aber sie sahen es beide: die gleiche Form des Kinns und der Wangen, die Ähnlichkeit des Mundes, derselbe Schwung der Augenbrauen.
»Überzeugt dich das?«
»Gut, wir sind Geschwister. Und nun?«, sagte er harscher als beabsichtigt.
»Unsere Mutter hat uns als Säuglinge vor dem Erzengel in Sicherheit gebracht, weil er uns töten wollte – dessen bin ich mir inzwischen sicher. Sie wollte, dass wir ihn bekämpfen, wenn wir alt genug sind.«
Ruben hob das Kinn. »Mir wurde etwas anderes erzählt, nämlich, dass unsere Mutter uns nicht wollte.«
»Meine Mutter schließt gerne von sich auf andere«, warf Nicolas ein.
»Du musst mitkommen, hier bist du nicht sicher. Wenn der Erzengel dich erst hat, bist du ihm ausgeliefert! Aber zusammen können wir ihn vielleicht besiegen«, fuhr sie eindringlich fort. »Ich besitze etwas, das uns dabei helfen kann.«
»Tatsächlich? Das klingt ungeheuer interessant«, sagte eine Stimme von der Tür her. Es war Elisabeth d’Ardevon, ihr dunkles Haar züngelte um ihr Gesicht.
Ruben konnte den Blick nicht von ihrer entsetzlichen Schönheit abwenden, und als sie den Arm nach ihm ausstreckte, erloschen all seine Zweifel. Unwillkürlich setzten sich seine Füße in Bewegung, und in ihrem Gesicht leuchtete ein triumphierendes Lächeln auf.
Er nahm kaum wahr, dass Nicolas aufgesprungen war und das Fenster aufgerissen hatte. »Er darf sie nicht ansehen! Halt ihm die Augen zu!«, rief er.
Kühle Mädchenhände schoben sich vor Rubens Augen. Jetzt hatte er nur noch Angst. Julie nahm seine Hand und zog ihn zum Fenster. Hitze versengte seinen Rücken und ein Wutschrei, der nichts Menschliches an sich hatte, gellte in seinen Ohren. Er drehte sich um und sah, wie Nicolas einen silbernen Kandelaber von einem Beistelltisch riss und ihn seiner Mutter entgegenschleuderte. Sie kreischte auf und fiel zu Boden, an der Stirn eine Brandwunde, obwohl die Kerzen in dem Leuchter gar nicht gebrannt hatten. Vor seinen Augen verwandelte sich ihr Gesicht, verzerrte sich zu einer grässlichen Fratze, die ihm und den anderen spitze Zähne entgegenbleckte.
»Hinaus!«, schrie Nicolas.
Julie zog Ruben weiter. Sie sprangen auf den Diwan und wurden in die Nacht katapultiert, stürzten auf den Kiesweg, der um das Haus herumführte. Rubens Schulter knackte, und er stöhnte, doch er rappelte sich blitzschnell auf und rannte, von Entsetzen gejagt, wie er noch nie gerannt war. Er sah nicht, wohin es ging, sondern folgte einfach Julies hellem Haar, das vor ihm wie eine Fahne wehte. Er fürchtete, jeden Moment würde die Comtesse ihn im Genick packen. Doch sie kam nicht. Stattdessen wuchsen zwei Gestalten vor ihnen aus dem Dunkel und versperrten den Weg zur Straße.
Ruben sah sich um, aber es gab keinen Ausweg: Sie waren gefangen zwischen einer hohen Mauer zur Rechten und dem Stall zur Linken. Die Gestalten kamen auf sie zu, ihre Schritte knirschten auf dem Kies. Ruben erkannte sie nun: Jean-Marc und Antoine. Die beiden hatten ihn und die Comtesse einige Male auf Ausfahrten begleitet. Auch jetzt sahen sie aus, als kämen sie gerade von einem Empfang, doch ihre geduckte Haltung passte nicht zu ihrer geckenhaften Kleidung.
»Vorsicht!«, zischte Nicolas. »Sie sind beide Seraphim! Der Gro ße hat Muskeln wie Eisen, der andere ist schnell wie eine Schlan ge.« Laut sagte er: »Sieh an, die Wachhunde meiner lieben Mutter. Hattet ihr heute noch kein Fresschen?«
Die Antwort war ein zweistimmiges Grunzen, dann schnellte Antoine hoch, unmöglich hoch, schlug über ihren Köpfen mehrere Salti, zu schnell, als dass das Auge folgen konnte, und stand auf einmal eine Armlänge vor Ruben. Bevor er auch nur zurückschrecken konnte, hatte der Seraph ihn gepackt und ihm die Arme auf den Rücken gedreht. Es fühlte sich an, als würden sie ihm ausgerissen, und vor Schmerzen wimmernd ging Ruben in die Knie. Hilflos sah er, wie Jean-Marc mit schweren Schritten auf Julie und Nicolas zustapfte.
»Benutze deine Gabe!«, schrie Nicolas.
»Ich weiß nicht, wie!«, rief Julie verzweifelt.
»Merde !« In seiner Bedrängnis griff Nicolas zum einfachsten Verteidigungsmittel, das ihm zur Verfügung stand: Er bückte sich, griff sich eine Handvoll Kies und schleuderte sie Jean-Marc ins Gesicht. Dieser Seraph mochte stark sein, schnell war er nicht.
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