Die Rache der Jagerin
meine Hand. Geduckt glitt ich an ihm vorbei und drehte ihm den Arm auf den Rücken.
»Fass mich nicht an«, zischte ich ihm ins Ohr.
»Tut mir leid.«
Ich ließ los und trat einen Schritt zurück. Ohne einen triftigen Grund atmete ich schwer. Dabei hatte dieser kleine Verteidigungsgriff mich nicht sonderlich angestrengt. Nein, es lag an dem Schwall Adrenalin, der durch meine Adern pulsierte. Mein Herz pochte, während mein Verstand meinen Körper allmählich wieder unter Kontrolle brachte. Dass er meine Hand ergriffen hatte, hätte keine solche Reaktion bei mir auslösen dürfen. Aber vielleicht war es auch gar nicht meine eigene Reaktion gewesen.
Ich hatte viel von Chalice Frost geerbt, was ich erst noch sortieren musste, während sich mein Gehirn mit ihren Erinnerungen vertraut machte. Dauerhaft den Körper einer Verstorbenen zu übernehmen erforderte wohl eine längere Eingewöhnungszeit. Vor allem, wenn es sich bei der Verstorbenen um eine Selbstmörderin handelte. Denn mein Lebensgrundsatz war, niemals aufzugeben – ganz gleich, wie groß die Qualen oder wie klein die Chancen einem vorkamen. Chalice hatte sich umgebracht, statt sich den imaginären Dämonen zu stellen, die ihre Depression verursacht hatten. Inzwischen wusste ich, dass ihre unentdeckte Gabe einen Anteil daran gehabt hatte, aber ihr war das nicht bekannt gewesen. Sie hatte einfach aufgegeben.
Damit wollte ich nichts zu tun haben. Doch wenn ich ihre Gefühle für Wyatt annahm, musste ich dann auch ihre verhängnisvolle Schwäche akzeptieren? Wenn ich das eine ohne das andere nicht haben konnte … Es steckte nicht in mir, einfach aufzugeben. Zumindest dachte der Teil von mir so, der noch Evy Stone war.
»Darüber will ich wirklich nicht sprechen, Wyatt«, antwortete ich. »Weder über Tovin noch über den Feenrat, die Kobolde, die Blutsauger oder irgendetwas anderes, das nichts mit einer Auszeit von dieser unseligen Kacke zu tun hat, die sich mein zweites Leben nennt.«
»Das kannst du aber nicht ewig ignorieren, Evy«, sagte er, während er sich zu mir umdrehte.
»Das habe ich auch nicht vor. Nur fürs Erste will ich nicht daran denken.«
»Und Chalice willst du vorerst auch ignorieren?«
»Dürfte ein bisschen schwierig sein, meinst du nicht?«
»Ich weiß ja nicht. Was diese Geschehnisse angeht, warst du ja nicht gerade mitteilsam, als ich gestorben bin.«
Ich sah zu Boden und wünschte mir, er würde so etwas nicht sagen. Ich wollte nicht, dass er so leichthin über das Sterben redete – das war schließlich meine Macke und nicht seine. Zwar hatte Wyatts Tod das geschäftliche Abkommen um meine Wiederauferstehung beendet und mir das Weiterleben ermöglicht. Aber der Heilkristall, den ich von einem Gnom namens Horzt bekommen hatte, hätte beinahe nicht gewirkt. Um ein Haar hätten wir alles verloren.
Mit einem Finger hob er nun mein Kinn. Ich ließ es zu, so dass ich ihm in die kohlschwarzen Augen blicken konnte. Sie waren so voller Neugier und Schmerz und Leben. Und auf ihrem Grund – verborgen, um mir keine Angst einzuflößen – war auch Liebe zu erkennen. Nicht die platonische Liebe eines Handlers zu seiner langjährigen Jägerin, sondern die Liebe eines Mannes, der bereitwillig seine Seele gegeben hatte, um mir ein zweites Leben zu schenken.
Die Art von Liebe, die ich so gerne erwidert hätte, es aber nicht über mich brachte. Zumindest nicht körperlich. Nicht, solange ich Chalices Vergangenheit noch nicht mit meiner eigenen in Einklang gebracht hatte. »Willst du wirklich wissen, was passiert ist, als du gestorben bist?«, fragte ich.
»Ja.«
»Mir ist das Herz in der Brust in tausend Stücke zersprungen. Rein metaphorisch, natürlich. Bist du jetzt zufrieden?«
Aus seiner Kehle drang ein erstickter Laut, der sich irgendwo zwischen einem Keuchen und einem Schrei befand.
»Ungefähr fünf Sekunden später«, fuhr ich fort, »sah ich ein blendendes graues Licht, und tausend verschiedene Erinnerungen blitzten in meinem Kopf auf, während mein Körper Hunderte nie gekannter Reize wahrnahm. Meine Verbindung zur Kluft war mit einem Mal so mächtig, dass ich fast in Flammen aufgegangen wäre.«
Durch diese Verbindung war meine neue Teleportationsgabe gestärkt worden, und das hatte wiederum mich gestärkt. In dem Augenblick, als Chalice und ich schließlich eins geworden waren, hatte sich mein Blickwinkel gewandelt. Meine Sinne hatten sich verändert, und ich sah die Welt in anderen Farben als noch zwei Stunden zuvor. Ich
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