Die Rache des Chamäleons: Thriller
Zahlenkolonne.
Er öffnet die Umschläge. Papiere, überwiegend Quittungen, so sieht es aus. Aus dem dritten Umschlag fällt eine kleine Schwarzweißfotografie. Darauf ist eine dunkelhaarige junge Frau zu sehen. Er schaut sie an, als hätte er sie noch nie gesehen. Er schüttelt das Kuvert. Ein weiteres Foto fällt heraus. Es ist größer. Er nimmt es in die Hand und sieht sich selbst in einer jüngeren Ausgabe. Er sitzt an einem Cafétisch. Die Sonne wirft scharfe Schatten, alles ist entweder schwarz oder weiß auf dem Foto. An der anderen Seite des Tisches sitzt ein junger Mann, er ist dunkelhaarig wie die Frau auf dem kleineren Bild, im Vordergrund ein Marktplatz. Einige Palmen. An der rechten Seite des Bildes eine weiße Wand.
*
Auf dem Küchenfußboden liegt eine Puppe. Er stolpert darüber, hebt sie auf, legt sie auf den Tisch neben die Tickets in die Sonne, die er eben auf den zwei Fotos gesehen hat. Gedanken wirbeln durch seinen Kopf.
Er steckt das Notizbuch in die Tasche, verlässt das Haus, setzt sich ins Auto und fährt in Richtung Süden zu einem Einkaufscenter, in dem es noch Münztelefone gibt.
In der Telefonzelle riecht es nach Urin und Besäufnis, der alte, vertraute Geruch von früher. Er schlägt sein Notizbuch auf, tippt die lange Telefonnummer ein, die er sich notiert hat, und wartet.
Nach vier Signalen meldet sich eine Frauenstimme. Sie rattert schnell ein paar Wörter auf Spanisch herunter.
Er versucht etwas zu sagen.
Die Frau redet weiter, bevor er sein Anliegen vorbringen kann. Wenn es denn ein Anliegen ist. Es ist ein Traum, das ist es, vielleicht ein Alptraum, vielleicht noch Schlimmeres.
»Quiero hablar con el Seño…« , sagt er, wird jedoch wieder unterbrochen. Es dröhnt wie Meeresrauschen, dort, wo die Frau ist, hämmert, lärmt, dröhnt es.
Sie unterbricht ihn. Er versteht sie nicht.
»No comprendo« , sagt er.
Er lauscht, sie ist gereizt, spricht lauter. Jetzt versteht er. Er versteht, was sie meint. Im Hintergrund zischt und faucht es. Die Telefonnummer, die er gewählt hat, ist die einer chemischen Reinigung. Die Frau hat keine Zeit für ihn. Er verabschiedet sich und legt auf.
Zwischen seinen Ohren dröhnt es, als er zurück zum Auto geht. Ihm wird klar, dass das Dröhnen zu ihm gekommen ist, um zu bleiben.
2 In diesem Teil der Stadt ist es nachts still. Er liegt wach und lauscht auf die Stille. Richtige Stille, die gibt es nicht mehr. Sichere Stille. Er dreht sich auf die Seite, dreht sich wieder auf den Rücken, auf die andere Seite, auf den Rücken, auf die Seite, Rücken, Seite, steht auf und versucht zum fünften Mal in dieser Stunde, Wasser zu lassen. Er spürt den Druck, aber es kommt nichts. Es ist wie eine Krankheit.
Auf dem Weg zurück ins Bett begegnet er der Morgendämmerung, die schon halbwegs ins Haus eingedrungen ist. Sie sickert durch die Jalousien, zwängt sich hindurch. Die Dämmerung ist unbarmherzig, niemand entkommt dem Tag, denkt er, als er über den Holzfußboden geht. Dem Heute entkomme ich nicht. Es gibt keine Dunkelheit, in der ich mich verstecken könnte. Ein banaler Gedanke, aber wahr.
Er liegt auf dem Rücken. In rasender Geschwindigkeit wird es heller im Zimmer. Er presst die Augenlider zusammen, öffnet sie, schließt sie wieder, versucht, sich zu entspannen, wartet, und da, als würde sich ein Schleier über seinen Kopf legen, sinkt er in dumpfen Schlaf.
Es ist, als würde er den Schuss sehen, bevor er abgefeuert wird, als sähe er das Geräusch der Explosion im Kopf. Er ist es, der die Pistole in der Hand hält. Sand, er steht auf Sand. Wogen, er hört sie am Ufer zerschellen. Er versucht, sich selbst die Pistole abzunehmen. Du entkommst nicht, du Schwein!, schreit er. Du entkommst mir nicht, du Schwein!
Er schreit, schreit.
»Peter! Peter!«
Jetzt eine andere Stimme.
»Peter!«
Er versucht, den Rauch mit den Augen zu durchdringen.
»Peter, wach auf.«
»Ich bin wach«, hört er sich sagen. »Hier ist so viel Qualm.«
»Qualm? Was meinst du?«
»Nichts«, sagt er.
»Du hattest einen Alptraum.«
Er schweigt.
»Du hast entsetzlich geschrien.«
»Ich brauche Wasser«, sagt er und richtet sich halb auf.
»Was hast du geträumt?«, fragt sie.
»Nichts, Rita. Ich erinnere mich jedenfalls nicht.«
Sie richtet sich ebenfalls auf und streichelt seinen Arm.
»Du bist total durchgeschwitzt, Liebling.«
Er wischt sich über die Stirn, holt tief Luft und schwingt die Beine über den Bettrand.
»Was ist eigentlich los?«,
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