Die Reisen Des Paulus
befindet. Er wird sich der ungeheuren Weite der Natur und seiner Win-zigkeit vor den Mächten des Universums bewußt. Er horcht in sich hinein. Selbst wer nicht gewohnt ist zu reflektieren, beginnt sein Gewissen zu erforschen. Und Paulus war gewohnt zu reflektieren, er war ein denkender Mensch, einer der gewaltigsten Geister aller Zeiten. Wenn ihn sein Erlebnis auf der Straße nach Damaskus völlig gewandelt hatte, dann brauchte er diese Jahre der Stille nicht nur, um mit seiner neuen Überzeugung ins reine zu kommen, sondern auch um eine brauchbare Hypothese für seinen Glauben zu entwickeln, für den Glauben, daß Jesus tatsächlich der Er-wählte Jahwes und der Messias war, den alle heiligen Schriften des Judentums verhießen. Alle Gründe sprachen für diese Zurückgezogenheit. Einer davon war, daß sein plötzlicher Meinungsumschwung ihn weder bei den Ältesten in Jerusalem beliebt machte noch für die christlichen Gemeinden in Jerusalem oder anderswo überzeugend wirkte. Pau-128
lus in Arabien. Tiberius auf Capri. Tiberius wurde im Lauf der Jahre immer gewalttätiger und exzentrischer. Er trank so unmäßig wie eh und je, seine psychopathische Grausamkeit und seine lasterhaften Sexualgewohnheiten traten immer unübersehbarer hervor. Sueton schreibt: »Auch geht die Rede, er sei einmal beim Opfern von der Schönheit eines Knaben, der das Rauchfaß vortrug, so entflammt worden, daß er sich nicht habe enthalten können, nach voll-brachtem Opfer denselben abseits zu führen und ihn sowie seinen Bruder, einen Flötenspieler, zu mißbrauchen, worauf er später beiden, weil sie sich einander diese Unzucht vor-geworfen hatten, die Beine habe zerschlagen lassen.« Bei einer anderen Gelegenheit zwang er eine Frau aus edler Familie, mit ihm das Lager zu teilen. Sie weigerte sich und war so angewidert von ihm, daß sie in ihrem Hause Selbstmord beging. Das medizinische Wissen steckte damals noch in den Kinderschuhen. Vielleicht rührten die Störungen, unter denen Tiberius gelitten haben dürfte – entweder Priapismus oder Satyriasis oder beides –, von einer Prostatainfektion oder einem Abszeß an der Prostata her. Seine früheren Jahre weisen ihn nicht nur als guten Soldaten und fähigen Or-ganisator aus, sondern er scheint überdies zu einem gewissen Puritanismus geneigt zu haben. Die Veränderung, die später mit ihm vorging, ist höchstwahrscheinlich physiolo-gisch zu erklären. Doch erklärt oder entschuldigt dies nicht seine kriminelle Grausamkeit. Die Julier hatten einen Hang zum Wahnsinn.
Hier einige von den satirischen Versen, die über diesen Giganten unter den Menschen geschrieben wurden, der praktisch ganz Europa und Nahost beherrschte:
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Du Ungeheuer an Grausamkeit! Ich will zum Orkus fah-
ren, Wenn selbst deine eig’ne Mutter dich noch liebt in diesen Jahren.
Saturns gold’nes Zeitalter ist vorbei, Saturns gold’ne Zeit ist zerschellt, entzwei, Und solang unser Cäsar die Macht behält, Herrscht eine eiserne Zeit in der Welt.
Er hat keinen Durst mehr auf klaren Wein, An dem er
sich vormals erfreut, Er schenkt sich jetzt etwas Besseres ein: Das Blut gemordeter Leut’.
Wenn Tiberius früher auf solche oder ähnliche Verse aufmerksam gemacht wurde, lächelte er und tat sie als Ergüs-se von Menschen ab, die wegen der von ihm in Gang gebrachten Reformen nicht gut auf ihn zu sprechen waren.
Vielleicht sagte er auch die Worte, die in einer Tragödie aus der römischen Frühzeit stehen: Oderint dum metuant – Mö-
gen sie hassen, wenn sie nur fürchten. Gewiß haßten sie ihn, und ebenso gewiß fürchteten sie ihn auch. Nach wie vor wurde der Golf von Neapel von den Galeeren angelaufen, die Botschaften aus Rom brachten und die Antworten des Kaisers zurückbeförderten. Der Senat war entmachtet, der Adel zum größten Teil vernichtet, das Volk schafsgeduldig und wehrlos. Selbst vom Ort seines freiwilligen Exils, selbst von seiner »Ziegenbockinsel« aus reichte des Kaisers Arm noch weit.
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V
Man wird Paulus’ Bekehrung in Damaskus kaum ver-
gessen haben. Aber es war eine derart kurze und
fremdartige Episode gewesen, daß viele Christen sie zweifellos als etwas Unerklärliches abtaten. Einige fragten sich vielleicht, ob das Ganze nicht nur Schauspielerei sei: ein Versuch des Paulus, sich bei ihnen einzuschleichen, damit er sie besser ausspionieren, dem Sanhedrin über die Lage der Dinge in den Synagogen von Damaskus berichten und die Namen von
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