Die Reisen Des Paulus
– man wür-133
de Paulus in einem Korb an der Mauer herunterlassen. Das dürfte kaum Aufsehen erregt haben, selbst wenn eine Wache es beobachtete. Um sich die Beschwerlichkeit des Trep-pensteigens zu ersparen und um nicht auf der Straße aufzu-fallen, lassen die Frauen im Orient heutzutage noch Körbe von ihren Baikonen oder Fenstern herunter, wenn fliegende Händler oder Gemüseverkäufer vom Land vorbeikommen
– sie werden auf die Körbe aufmerksam und rufen hinauf, um sich zu erkundigen, was gewünscht wird. Da das Unternehmen wohl in einer dunklen Nacht durchgeführt wurde, hat es vermutlich niemand gesehen. Wachen sind oft recht schlafmützig.
Doch in was für einem Korb hat ein ausgewachse-
ner Mann Platz? Einige Autoren meinen, es sei ein Fisch-korb gewesen. Das ist ziemlich unwahrscheinlich – Damaskus liegt nicht am Meer. Wenn es überhaupt ein Korb war, dann vielleicht eine Obstkiepe, denn vor den Wällen von Damaskus gab es eine Vielzahl von Obst- und Gemüsegärten. Möglicherweise kroch Paulus auch nur in einen Sack aus Flachs. Flachs wurde in ganz Ägypten angebaut und gehörte zu den wichtigsten Exportartikeln des Landes. Titus beschrieb Paulus später als einen schmächtig gebauten Mann. Da er anstrengend lebte und recht kärglich aß, dürf-te er kaum mehr als 90 Pfund gewogen haben. Auch hatten die Menschen damals zartere Knochen. Man konnte Paulus also wohl ohne Schwierigkeiten in einem Sack oder Korb unterbringen und mit Hilfe von zwei anderen Männern an der Stadtmauer herunterlassen. Das dazu erforderliche Seil war vermutlich aus Flachs oder Papyrus gemacht, letzterer ebenfalls ein ägyptisches Erzeugnis. Seile aus beiden Ma-134
terialien werden von Herodot in seinen Historien erwähnt.
Gut möglich, daß das Haus einen primitiven Aufzug hat-te (u. a. zum Hochholen des Getreides), einen hervorsprin-genden Balken mit einem daran befestigten Flaschenzug.
Paulus war frei. Aber er hatte wohl kaum erwartet, die berühmte alte Stadt Damaskus ausgerechnet auf diese Weise zu verlassen. Zum ersten Mal war er der Gewalttätigkeit begegnet, die ihm in seinem neuen Leben immer wieder entgegenschlug. Er erlitt mehrmals Schiffbruch, wurde auf höheren Befehl hin gegeißelt, mußte in vielen Städten Kleinasiens die Wut des Mobs über sich ergehen lassen und war noch öfter durch Attentate gefährdet, die entweder vom Sanhedrin in Jerusalem oder von lokalen Synagogenältesten geplant wurden. Paulus gehörte nicht zu den Menschen, die man eben duldet oder mit Stillschweigen übergeht. Seine Persönlichkeit war von einem solchen Extremismus, daß diejenigen, die ihm begegneten, ihn entweder liebten oder haßten.
Als er nach Damaskus kam, erwartete er vielleicht, er werde kraft seiner Gefühle und der intellektuellen Argumente, die er bei sich formuliert hatte, die gesamte jüdische Gemeinde davon überzeugen, daß er im Besitz der Wahrheit sei. Er war so arrogant zu glauben, die Nichtchristen könnten allein durch die Macht des Arguments bekehrt werden. Doch er mußte dazulernen, umlernen: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle …« Er mußte lernen, daß die liebende Fürsorge, die Agape, das wichtigste war – wichtig nicht nur bei der Bekehrung von Heiden und Juden, sondern im ganzen 135
Leben. Leidenschaft reichte nicht, und auch der Intellekt reichte nicht. Drei Jahre zuvor hatte er Jerusalem als Emissär des Sanhedrin verlassen, Anführer eines Trupps von Be-waffneten mit dem Auftrag, das Judentum von den Unorthodoxen zu befreien. Man hatte ihn damit betraut, weil er als diskussionsgewandt galt, weil er sich fanatisch um die Reinheit des Gesetzes bemühte und weil man wußte, wie genau er es mit den pharisäischen Grundsätzen nahm. Als er zurückkehrte, war er arm, stand am Rande der Gesellschaft – ein Mann, der aus Damaskus geflohen war, von den Christen beargwöhnt und von den Juden gehaßt. Er konnte nicht mit einem freundlichen Empfang in Jerusalem rechnen. Als bekannt wurde, daß er wieder da war und sich laut und vernehmlich als Anhänger des neuen Glaubens zu erkennen gab, dürften alle Parteien mißtrauisch aufgehorcht haben. Dann »versuchte er, sich zu den Jüngern zu halten; und sie fürchteten sich alle vor ihm und glaubten nicht, daß er ein Jünger wäre«. Kaum verwunderlich, wenn man bedenkt, welchen Ruf er früher genossen und welche Rolle er bei der Steinigung des Stephanus
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