Die Revolte des Koerpers
andere Menschen habe ich gedacht: »Ich? Ich wurde doch nie geschlagen. Die paar Klapse haben ja kaum eine Bedeutung gehabt. Und meine Mutter hat sich doch so viel Mühe mit mir gegeben.« (Auf S. 79 findet der Leser ähnliche Äußerungen.)
Doch wir dürfen nicht vergessen, daß die schweren Folgen der frühen unsichtbaren Verletzungen gerade durch die Bagatellisierung des kindlichen Leidens entstehen, durch die Leugnung von dessen Bedeutung. Jeder Erwachsene kann sich mühelos vorstellen, daß er zu Tode erschrecken und sich entwürdigt fühlen würde, wenn ein Riese ihn plötzlich wütend überfallen würde. Doch vom kleinen Kind nehmen wir an, daß es diese Reaktion nicht verspürt, obwohl wir leicht beobachten können, wie wach und kompetent das Kind auf seine Umgebung reagiert(vgl. Domes 1993, Juul 1997). Die Eltern denken, daß Klapse keineswegs weh tun, sie sollten dem Kind nur bestimmte Werte vermitteln, und das Kind übernimmt dieses Urteil. Manche Kinder lernen sogar, darüber zu lachen und ihren Schmerz über die erfahrene Entwürdigung und Erniedrigung zu verspotten. Als Erwachsene halten sie sich an diesem Spott fest, sind stolz auf ihren Zynismus, machen sogar Literatur daraus, wie wir es bei James Joyce, Frank McCourt u. a. sehen können. Wenn sie an Symptomen wie Angst und Depressionen leiden, was angesichts der verdrängten echten Gefühle unvermeidbar ist, finden sie mühelos Arzte, die ihnen für eine Weile mit Medikamenten helfen. So können sie ihre Selbstironie, die bewährte und geschätzte Waffe gegen alle aus der Vergangenheit aufsteigenden Gefühle, ruhig aufrechterhalten. Damit passen sie sich auch den Forderungen der Gesellschaft an, für die die Schonung der Eltern ein oberstes Gebot darstellt.
Auch viele Therapeuten sind bemüht, die Klienten von ihrer Kindheit abzulenken. Wie und warum sie sich so verhalten, zeige ich in diesem Buch sehr deutlich. Der Leser kann sich aufgrund meiner Beschreibung selbst orientieren, ob er auf diesem Weg zu sich selbst begleitet oder von sich selbst entfremdet wird. Letzteres kommt leider häufig vor. Ein in analytischen Kreisen sehr geschätzter Autor behauptet sogar in seinem Buch, daß es das wahre Selbst gar nicht geben könne, daß es irreführend sei, darüber zu sprechen. Wie kann ein auf diese Weise in der Therapie begleiteter Erwachsener seine kindliche Realität finden? Wie kann er erfahren, in welcher Ohnmacht er als Kind gelebt hat? In welcher Verzweiflung er sich befand, als die Verletzungen stattfanden, immer wieder, jahrelang, ohne daß das Kind sich wehren, ohne daß es die Realitätwahrnehmen durfte, weil niemand da war, der ihm geholfen hätte, sie zu sehen? So mußte das Kind versuchen, sich alleine zu retten, indem es in die Verwirrung flüchtete, und zuweilen eben in den Spott. Wenn es dem Erwachsenen später nicht gelingt, diese Verwirrung in Therapien aufzulösen, die den Zugang zu den verschollenen Gefühlen des Kindes nicht blockieren, bleibt er im Spott über das eigene Schicksal verhaftet.
Sollte es ihm aber doch gelingen, mit Hilfe seiner heutigen Gefühle zu den einfachsten, berechtigten und starken Emotionen des kleinen Kindes zu gelangen und diese als begreifliche Reaktionen auf (gewollte oder ungewollte) Grausamkeiten der Eltern oder Ersatzeltern zu verstehen, dann vergeht ihm das Lachen, verschwinden der Spott, der Zynismus und die Selbstironie. Und es verschwinden meistens auch die Symptome, mit denen man für diesen Luxus bezahlt hat. Dann wird das wahre Selbst, d. h., es werden die authentischen Gefühle und Bedürfnisse eines Menschen erlebbar. Ich selber bin darüber verblüfft, wenn ich auf mein Leben zurückschaue, mit welcher Konsequenz, Ausdauer und Unnachgiebigkeit sich mein wahres Selbst gegen alle äußeren und inneren Widerstände durchgesetzt hat und daß dies auch weiter ohne die Hilfe von Therapeuten geschieht, weil ich sein Wissender Zeuge geworden bin.
Natürlich reicht der Verzicht auf Zynismus und Selbstironie nicht aus, um die Folgen einer grausamen Kindheit aufzuarbeiten. Aber er ist dafür eine notwendige, unerläßliche Voraussetzung. In der Haltung der Selbstverspottung hingegen könnte man zahlreiche Therapien absolvieren und käme doch nicht vom Fleck, weil die wahren Gefühle und damit die Empathie für das Kind, das man war, weiterhin verschlossen blieben. Man zahlt dann lediglich (oder läßt die Krankenkassen bezahlen) für eine Begleitung, die eher behilflich ist, vor der eigenen
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