Apokalypse auf Cythera
1.
Stapen Crau 36 war kein Held. Er war ein müder, achtunddreißigjähriger Mann, der jetzt den Eindruck hatte, als habe ihn jedes Jahr seit dem Zeitpunkt seiner Reife vier Prozent seiner Illusionen gekostet. Vielleicht spielte er einen Helden, so wie er aussah: in einem meerblauen Anzug aus wasserdichtem Gewebe, mit langen Schwimmflossen ausgerüstet, die flachen Druckflaschen der Aqualunge auf dem Rücken, das nötige Zubehör in wasserdichten Taschen des Gürtels. Stapen war entschlossen, fünfzehn Tage lang zu überleben. Die größte Schwierigkeit dabei war, daß er die Welt, in der er zu überleben hatte, nicht kannte.
Das Meer ging in einer langen, regelmäßigen Dünung, die von der Tramontana herrührte, dem ablandigen Wind aus dem Norden. Dieses Fremdwort und einige andere Begriffe, das war alles, was die Männer von Baudelaires Planet ihm als Anhaltspunkte hatten mitgeben können. Langsam bewegte er Arme und Beine und schwamm ein paar Meter unterhalb der Wasseroberfläche auf das ferne Land zu. Die Strömung unterstützte ihn, so wie sie ihn nach fünfzehn Tagen wieder unterstützen würde, wenn er dieses Land verließ.
Hoch über ihm spannte sich der Himmel. Er war nicht blau, wie es Stapen von anderen Planeten her kannte, sondern hatte einen starken Stich ins Violette. Die Wolken hoben sich mit scharfen Linien von der Farbe des Himmels ab.
Das Land vor ihm schien Schwermut und Verlassenheit auszustrahlen. Eine Barriere aus Felsen mit vorgelagerten Inseln, auf denen nicht einmal Moos zu wachsen schien.
Nicht verwunderlich, dachte er. Nach dem, was die von Baudelaire ihnen angetan haben, würde auf keinem Planeten etwas wachsen. Höchstens der Haß.
Ein langer Fisch mit kleinen Augen schwänzelte heran, umkreiste Stapen mehrmals und glitt davon. Ein Fetzen Tang glitt in den Bereich seiner Hände, die in langen Handschuhen steckten. Stapen wirbelte ihn davon und schwamm weiter. Das Wasser wurde hier, in Landnähe, wärmer. Er registrierte es dankbar, denn die Ausrüstung, die er auf Fishers Island gekauft hatte, war nur scheinbar das beste; der Händler hatte ihn betrogen. Ein Schwarm Fische mit silbernen Bäuchen und langen Rückenstacheln zuckte heran, sah ihn, und ein paar hundert Tiere machten im gleichen Sekundenbruchteil eine Kehrtwendung und stoben davon.
Er mußte versuchen, seine Kräfte ökonomisch einzuteilen. Er ließ sich von der schwachen Strömung mitschleppen und wartete auf den Augenblick, an dem ihn die aufgehende Sonne blenden würde; er schwamm gegenwärtig nach Osten, und die Felsen des Landes vor ihm verbargen die Scheibe noch. Mit zwei, drei schnellen Bewegungen brachte sich Stapen an die Oberfläche, ehe die Strahlen das Glas seiner Brille treffen und davon reflektiert wurden. Er sah sich um.
Geradeaus lag das Land. Einer der wenigen Erdteile, den der Krieg nicht derart zerstört hatte, daß jede Besiedlung unmöglich war – hatten die Männer von Baudelaire gesagt. Eine drohende Barriere aus schrundigen Felsen, mit Streifen eines Bewuchses, der nicht sehr hoch und vor allem nicht sehr alt sein konnte.
Davor, in unterschiedlichen Entfernungen, ein Gewirr von Inseln. Sie umgaben den kleinen Naturhafen, der von Stapens derzeitigem Standpunkt rund zehn Kilometer entfernt war, wie ein Wall von Zähnen. Undeutlich konnte Stapen Crau 36 den Gischt der Brandung erkennen, die sich an dem rostroten Gestein brach.
Wesentlich deutlicher sah er eine Anzahl Segelboote, die im ablandigen Morgenwind zwischen dem Festland und den Inseln kreuzten. Segelboote? Das widersprach jeder Vorstellung, die man von dieser Welt hatte. Stapen war dazu abgerichtet worden, ohne jedes Vorurteil an seine Mission heranzugehen, und das würde er auch tun.
Als die ersten Strahlen hinter den Berggipfeln hervorbrachen, tauchte Stapen wieder unter und schwamm weiter. Er tat dies mit den Bewegungen eines Roboters. Er bemühte sich, seine Gedanken auszuschalten und seine Arbeit zu tun. Der erste von fünfzehn Tagen war angebrochen. Es würde auch einen letzten Tag geben; Stapen hoffte, es würde der fünfzehnte sein. Vielleicht brachten sie ihn vorher um. Er wußte es nicht. Er wußte nichts.
Er schwamm weiter.
Mit langsamen, bedächtigen Bewegungen, mehrere Meter unterhalb der Wasseroberfläche. Die Strömung und seine Beharrlichkeit, verbunden mit einem langen Training und einem einzigen Gedanken – Sved Amarylis –, an den alle anderen Gedanken und Aussichten, Assoziationen und Möglichkeiten
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