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Die rote Antilope

Die rote Antilope

Titel: Die rote Antilope Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Mensch.
    - Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr, sagte sie.
    Der Nebel deckte die Landschaft zu. Sanna hockte sich in den Lehm. Sie hatte die Fotografie des Königs bei sich und folgte seinem Namenszug mit dem Finger. Vorsichtig zog Daniel das Sichelblatt aus der Tasche und stieß es ihr in den Nacken. Ohne einen Laut fiel sie vornüber. Er stieß weiter zu, bis er sicher war, daß sie tot war. Als er sie umdrehte, starrte sie ihn mit offenen Augen an. Er schmierte ihr Lehm ins Gesicht, bis die Augen ihn nicht mehr sehen konnten. Damit sie auch nicht reden könnte, stopfte er so viel Lehm in ihren Mund und Rachen, wie er vermochte. Er war außer Atem und ganz durchgeschwitzt, als er das Blut abrieb, das auf seine Kleider gespritzt war. Dann nahm er das Sichelblatt und die Fotografie des Königs und vergrub beides im Lehm.

    Die Bäume, auf denen die Vögel zu sitzen pflegten, waren im Nebel nicht zu sehen. Daniel packte Sannas Arme und machte sich daran, sie von dem Hügel herunterzuschleppen. Mehrmals war er gezwungen, sich hinzuhocken. Er hustete so heftig, daß er sich übergab. Der Mund war voller Blut, aber das kümmerte ihn nicht. Bald würde er wieder zu Hause sein. Er schleifte Sannas Körper, bis er die Bäume erreicht hatte, wo sonst die Vögel saßen. Er bedeckte den Leichnam mit einer dünnen Schicht heruntergefallener Äste und altem Reisig. Wenn die Vögel zurückkehrten, würden sie in ihren Körper hacken, bis nichts mehr davon übrig war. Obwohl er wieder Fieber bekommen hatte, fühlte er sich stark. Jetzt brauchte er nichts anderes zu tun, als sich in den Stall zu legen und zu warten. Kiko und Be würden bald kommen.

    Am selben Abend begann er, an einem seiner Holzschuhe zu schnitzen. Er wollte Be und Kiko ein Geschenk machen, wenn sie ihn holen kamen. Vor allem wollte er Kiko zeigen, daß er jetzt schon viel geübter darin war, Figuren zu machen. Als Alma das Essen brachte, versteckte er das Schnitzmesser und den Schuh. Er machte sich gleich darüber her.
    - Nicht zu schnell, sagte sie. Dein Magen verträgt keine Hast.

    Daniel befolgte ihre Ermahnung. Einen kurzen Moment lang bekam er Lust, Alma zu erzählen, daß jetzt alles gut würde. Bald würde er nicht mehr draußen im Stall liegen müssen. Sie müßten sich keine Sorgen um ihn machen. Aber er dachte, es wäre wohl doch besser, wenn er nichts sagte. Doktor Madsen und Hallen hatten von einem Haus gesprochen, in dem Menschen eingesperrt wurden. Er wollte nicht noch einmal gefesselt werden.

    In der Nacht, als er mit den Tieren allein war, zog er alle Kleider aus und wusch sich am ganzen Körper. Obwohl das Wasser kalt war, rieb er seine Haut, bis aller Schmutz entfernt war. Er entdeckte, daß er Blutflecke an den Kleidern hatte. Er schrubbte sie mit der Bürste, die Edvin für die Pferde benutzte. Dann zog er sich wieder an und lag eine Weile da und schnitzte an seinem Holzschuh. Er hütete sich davor, ungeduldig zu werden. Er wollte, daß Kiko zufrieden wäre und sagen würde, er sei auf dem besten Wege, es zu lernen.

    In der Morgendämmerung ging er hinaus auf den Hof.
    Der Nebel lag dicht über den Feldern. Von fern konnte er die Vögel hören, die lärmten. Edvin trat auf die Treppe hinaus und stellte sich zum Pinkeln hin. Erst als er fertig war, entdeckte er Daniel. Er knöpfte die Hosen zu und kam zu ihm hin. - Bist du auf dem Wege der Besserung? fragte er.
    - Ja, antwortete Daniel. Ich bin bald wieder gesund.

    30

    Daniel teilte sich seine letzte Zeit im Leben ein, indem er in den zweiten Holzschuh, den er nicht zu einer Skulptur formen wollte, Kerben ritzte. Jedesmal, wenn er das Schnitzmesser niederlegte und ebenso, wenn er seine Arbeit wiederaufnahm, schnitt er eine Kerbe in diesen Schuh.

    Er wartete. Jetzt, da er seine Kräfte mit all dem Bösen gemessen hatte, das ihn umgab, und gezeigt hatte, daß er der Stärkere war, hatte die Zeit ihre Bedeutung verloren. Sein Warten bedeutete etwas anderes als zu sehen, wie das Morgengrauen durch die Fenster des Stalls kroch, oder wie die Abenddämmerung sich herabsenkte. Sein Warten bedeutete, daß er lauschte. Aus welcher Richtung Be oder Kiko auch kommen würden, er würde sie vorher hören. Ihre Stimmen würden leise sein, beinahe flüsternd, vielleicht würden sie klingen wie die Kühe, die in ihren Verschlägen schnaubten, oder wie ein Huhn, das mit den Flügeln schlug. Er wußte es nicht, und deshalb mußte er auf alle Laute achten, die ihre Ankunft ankündigen

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