Sturmkaempfer
1
In den dunklen Winkeln der Nacht träumt er von einem stillen Palast an der Küste: von einem Ort, an dem grelles Sonnenlicht und bleierne Schatten in den langen Gängen auf weißen Marmor fallen. Ohne die Rufe der Seevögel oder das Pfeifen des Windes in den Fahnen wäre die Stille hier vollkommen und würde nur vom gelegentlichen Brechen einer Welle auf den Felsen dort draußen und seinem eigenen schnellen Herzschlag gebrochen werden.
Er steht in einer gewaltigen sechseckigen Halle und schaut auf eine unlesbare Schrift, die in den Boden eingeritzt wurde. Die fremdartigen Worte bewegen sich in einer langsamen Spirale von einem dunklen Durchgang aus bis zum Fuß einer Wendeltreppe, dem einzig anderen Bemerkenswerten in dieser Halle. Sie schraubt sich dreißig Meter in die Höhe und endet dann knapp vor der flachen Decke: knapp einen Meter zu früh.
Gleichgültig ob Fluch oder Segen, immer weiter folgt er den Windungen der Schrift, bis er schließlich an jener Treppe ankommt. In die Mitte jeder Stufe ist ein Symbol eingeritzt, ein Zeichen, das er noch nie zuvor sah. Nach einem Augenblick des Zögerns setzt er seinen Fuß mitten auf das erste Symbol und geht auf diese Weise weiter. Seine Augen gleiten immer wieder zur nächsten Form, bis er das Ende der Treppe erreicht. Hier oben wirkt die Luft dünner. Er lehnt sich über das Geländer und
schaut in den tiefen Abgrund, der bis zum Boden klafft. Dann schiebt er sich durch eine Falltür in der Decke und starrt vom Boden eines höhlenartigen, hochgewölbten Schreins hinauf.
Der Palast ist aber nur eine Hülle, ein unvollendetes Werk aus altarlosen Tempeln und unbeschriebenen, zerfallenden Gedenkstätten. In jede Richtung erstrecken sich hohe Hallen, alle sind leer bis auf die unzähligen Statuen, die aus demselben uralten Stein gemeißelt wurden wie auch schon die Wände. Beim Blick durch die Bogenfenster erscheinen sogar die Wellen, die an den sonnenbeschienenen Strand branden, unecht. Er hat sich nie hinausgewagt, um seine Finger in diesen Ozean zu tauchen, hat nie das Salz in der Luft geschmeckt oder die Berührung der Sonne auf seiner Haut gespürt.
Während er die beinahe meterhohen Ränge einer ovalen Versammlungshalle heruntersteigt, fühlt er sich schutzlos und verletzlich. Eine alte Frau hatte ihm einmal erzählt, in einer solchen Kammer beschlössen die Götter das Schicksal der Menschen; sie streiten bei der Geburt, bis das ganze Leben vorherbestimmt ist. Aber hier gibt es keine mitfühlenden Stimmen, die Fürsprache für ihn halten, es gibt auch kein Geräusch außer dem seiner nackten Füße, gedämpft wie das Echo eines lang vergangenen Liedes.
Er weiß, wohin ihn sein Weg schließlich führen wird. Er endet immer am gleichen Ort, aber dennoch durchschreitet er unbekannte Zimmer und abschüssige Gänge, immer in der Hoffnung, dass hinter der nächsten Ecke der Weg nach draußen wartet.
Erneut befindet er sich in einer riesigen Kammer, in der die Wand auf fünfzig Schritt Breite brutal aufgerissen wurde. Er sucht sich den Weg über den Schutt und in den Wald aus Statuen dahinter. Monster und Helden stehen in steinerner Bereitschaft herum, warten auf den Tag, an dem sie für eine letzte Schlacht wiederbelebt werden. Auf der anderen Seite des gewaltigen Raumes
liegt, zwischen den Säulen hindurch sichtbar, eine Terrasse. Nach den vielen Meilen, die er gelaufen ist, sind selbst einige hundert Schritt mehr zu viel für seine Beine. Die Angst schwächt seine Muskeln und zwingt ihn, sich hinter der Ferse eines tapferen toten Kriegers zu verstecken, wartend und beobachtend.
Er sieht in der Mitte der Halle einen großen Mann stehen, schrecklich und mächtig, als wäre die größte der Statuen irgendwie zum Leben erwacht. Er weiß, dass dieser Mann sterben wird – denn seine gewaltige Kraft nützt ihm nichts gegen das, was diesen Ort heimsucht. Noch bevor der Ritter in schwarzer Rüstung aus dem Nichts erscheint und den Mann angreift, geschieht es. Er sieht zu, wie die gewaltige gezackte Klinge in das Fleisch des Mannes schneidet und den Kopf abtrennt. Panik schwelt tief in seinem Innern, denn er weiß doch: Eines Tages wird sich diese Klinge in seinen eigenen, so schwachen Körper fressen. Und dann sieht er etwas Erschreckendes im Gesicht des Mörders – den Fluch, den auch er teilt. Der Palast löst sich auf. Das Blut verblasst. Nur das gleißende Licht seines Blickes bleibt bestehen.
Isak lag reglos und betrachtete die vertrauten Risse und
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